Newsletter 21. Mai 2021

Newsletter vom 21.05.2021

In der nächsten Pandemie erheben wir die Stimme lauter, sagt Stadtdechant Kleine

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

der „Tag der Diversität“, der Verschiedenheit, ist gerade vorbei. Gedanklich hängen geblieben an ihm bin ich nur, weil auf unsere Wirklichkeit ein ähnlich klingendes, aber anderes Wort passt: diffus. So empfinde ich die Lage. Das öffentliche Meinungsbild ist divers – jede der gesellschaftlichen Institutionen aus Politik, Kirche, Wissenschaft und Wirtschaft ist vertreten. Aber eine ordnende Kraft, aus deren Haltung sich Zusammenhalt entwickelt, erkenne ich nicht. Wer gibt uns Halt, wo finden wir das Geländer, an dem wir uns festhalten können? Was sind Verschiedenheit und Vielfalt wert, wenn es an einer prägenden, moralischen Kraft fehlt und der Alltag von technischer Pandemiebewältigung überlagert ist? Und wer kümmert sich um die ewigen Themen wie Leben und Sterben, um Nächstenliebe, Trost und Gerechtigkeit? Darüber sprach mit Msgr. Robert Kleine, dem Kölner Stadtdechanten der Katholischen Kirche.

Demokratie, sagt der Geistliche, könne so ein Halt sein. Das Geländer seiner Institution Kirche aber sei zur Zeit recht wackelig. Die Art der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs habe vielen den Glauben an die Institution Kirche, nicht jedoch an Gott geraubt. „Warum sollten die uns Vorbild sein, die von ihrem hohen Ross gefallen sind“, frage sich manch einer. Darüber hinaus habe die Kirche sich in der Pandemie zu stark von der Frage der „Systemrelevanz“ beeindrucken lassen, deren positive Beantwortung über Öffnung und Wahrnehmbarkeit entschied. Supermärkte durften Kunden einlassen, der Nahverkehr Menschen transportieren, die lebenswichtige Infrastruktur für die Bevölkerung – Wasser, Strom, Müllabfuhr – musste gesichert sein. Doch die Kirche fügte sich. Dabei sei sie absolut lebens- und menschheitsrelevant, sagt Kleine.

Der Geistliche wendet ein, dass in den Gemeinden und kirchlichen Einrichtungen einiges passiert sei. Das „Zeit für Sie“-Telefon etwa, das über die Telefon-Seelsorge hinaus Vereinsamung und Isolierung verhindern soll oder gestreamte Gottesdienste etwa. Doch wahrnehmbar waren eher Schritte wie die Absage von Gottesdiensten und der einsame Tod alter Menschen in Krankenhäusern und Seniorenheimen. Niemand dürfe künftig mehr alleine bleiben, einsam und ohne Trost sterben, formuliert es Kleine. Zudem hätten die Pandemieregeln soziale Beziehungen innerhalb der Gemeinde abgeschnitten. „Der Mensch wird am Du zum Ich“, zitiert er den Religionsphilosophen Martin Buber. „Die Krise zeigt uns, wo wir solidarisch sein, Trost spenden und Menschen begleiten müssen.“ Und sei es, dass sich Geistliche im Krankenhaus eben einen Ganzkörperschutzanzug überstreifen müssen. „Wir sind eine Menschheitsfamilie“, sagt der Stadtdechant.

„Damals“ nennt Robert Kleine die heute unbeschwert anmutende Zeit, die hierzulande mit dem Karneval 2020 endete. Deutschland wurde zu einem Pandemie-Land, wie wir es bislang nur aus Katastrophenfilmen kannten. Dass die Bewältigung von Corona in allen Erscheinungsformen noch Jahre dauern wird, räumen Ärzte nicht nur hinter vorgehaltener Hand ein. „Wir waren als Kirche zu ruhig. Nächstes Mal müssen wir unsere Stimme lauter erheben und die Menschen stärker im Blick haben,“ sagt der Stadtdechant. Nächstes Mal? Wie viele andere Institutionen stellt auch die Kirche sich darauf ein, dass es ein nächstes Mal so sicher gibt, wie wir niemals in das „Damals“ von Anfang 2020 zurückkehren werden.

Warum ich Robert Kleine als Gesprächspartner gewählt habe? Ich habe ihn stets als zugewandten, standfesten, aber nie verletzenden Zeitgenossen erlebt, der mit freiem Kopf über alle Fragen spricht. Als Stadtdechant ist er Gesicht seiner Kirche und offen für das, was um ihn herum vorgeht. Das ist nicht überall so.

Heute fragen wir in Mails, Briefen oder Gesprächen ganz selbstverständlich, ob unser Gegenüber und seine Lieben gesund seien. Als ich für diesen Newsletter mit Freunden in Israel telefonierte, machte die Floskel mich eher beklommen. Was soll der Vater antworten, der sich ganztags um seinen kleinen Sohn kümmert, denn die Schulen haben dort geschlossen. Wie erklärt er den heulenden Warnton der Luftschutzsirenen, der die Menschen Schutz suchen lässt – in Treppenhäusern, Kellern oder Schutzräumen? Ganze Familien verbringen dort die Nacht, wenn die Raketen aus dem Gaza-Streifen ihre Flugbahn über den Himmel ziehen und in der Luft von Abwehrgeschossen abgefangen werden. Wenn es günstig kommt. Etwa 3500 Raketen kamen bisher aus Gaza. Die Analyse solcher Bilder fällt erschreckend leicht: Blanker Vernichtungswille steht dahinter. Ein Kind vergisst die Bilder nicht.

Die links-liberale „Haaretz“ gehört zu den führenden Zeitungen der Welt und spielt in Israel eine Rolle wie bei uns FAZ und Süddeutsche Zeitung zusammen. Aluf Benn, ihr Chefredakteur, war viele Jahre auch Sicherheitskorrespondent seines Blatts und kann die Lage beurteilen. „Wenn die Sirenen heulen, suchen wir im Bunker Schutz“ berichtet er. Und in den Redaktionsräumen? „Wir haben eine Nachrichtenzentrale für Kriegsbedingungen aufgebaut“, sagt der 56jährige. Sie befindet sich im Keller des ehrwürdigen Verlagshauses, einem Art-Deko-Gebäude aus den 30er Jahren. Dort ist eigentlich das Archiv der Zeitung untergebracht, mit dem die Geschichte des kleinen Landes erzählt werden kann, das seit seiner Staatsgründung am 14. Mai 1948 in seiner Existenz bedroht ist.

Ob die Attacke der Hamas geplant war oder eher ein Ausbruch, fragte ich den Chefredakteur. „Dieser Angriff war geplant“, antwortete Aluf Benn, „und Israel hat sich unvorbereitet überrumpeln lassen.“ In einer solchen Situation auf Ausgleich zu setzen, die Position der anderen Seite darzustellen und zu differenzieren, ist ein Tanz auf Messers Schneide. Haaretz führt ihn täglich immer wieder journalistisch auf.

Aluf Benn nennt die israelischen Angriffe auf Gaza „gescheitert“ und schreibt vom „sinnlosesten Grenzkrieg“ (siehe Artikel: This is Israel’s most failed and pointless Gaza operation ever. It must end now – Israel News – Haaretz.com). Sein Herausgeber Amos Schocken wirft der eigenen Regierung „Versagen“ vor (siehe Artikel: Netanyahu, Gantz and Kochavi are failing us – Opinion – Haaretz.com). Was sagt Aluf Benn zu den Reaktionen aus Deutschland und Europa, den Demonstrationen, die in anti-jüdische Proteste umschlugen? Nichts. Sein Hauptaugenmerk gelte der eigenen Region, entgegnet er. Israel nimmt ihn voll und ganz in Anspruch.

Hinter all dem treten unsere eigenen Sorgen zurück. Natürlich verschwinden sie nicht aus unserer Welt, aber ihre Größe schrumpft zumindest.

Herzlich grüßt
Ihr
Peter Pauls

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