Newsletter 11. Juni 2021

Newsletter vom 11.06.2021

„Leben heißt Veränderung – ich weiß, was das heißt!“

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

viele Menschen hierzulande empört der Gedanke an die Rente mit 68. Den Mann, der das zweithöchste Staatsamt in Deutschland bekleidet, auch. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Er hat mit 68 nämlich noch lange nicht an den Ruhestand gedacht und tut es, mittlerweile 78, immer noch nicht. Im September, dann ist er 79, will er mit einem neuen Mandat wieder in den Bundestag einziehen und die Chancen stehen bestens, dass das auch klappt.

Aus meiner Arbeit kenne ich Wolfgang Schäuble seit mehr als 30 Jahren, wir sind uns immer wieder begegnet. Er hat mich zwar mit seinem Fleiß beeindruckt, politisch eigenständig fand ich ihn nicht und in der Kategorie der Sympathieträger hätte man ihn zu Bonner wie auch später zu Berliner Zeiten wohl vergeblich gesucht. Doch ich kenne niemanden, der diesem gelegentlich sehr schroffen Mann den Respekt verweigern würde – nicht nur, weil er nach dem Attentat seit 1990 querschnittgelähmt im Rollstuhl sitzt und sein Schicksal mit bewunderungswürdiger Tapferkeit und eiserner Disziplin nicht nur trägt, sondern es auch gestaltet.

In diesen Tagen war er in Köln als Gast von Europas größtem Literaturfestival, der lit.Cologne. Dort saßen wir zusammen mit der Philosophin Svenja Flaßpöhler auf dem Podium. Der promovierte Jurist Schäuble ist zwar nicht unter die Literaten gegangen, aber er hat ein Sachbuch geschrieben unter dem Titel „Grenzerfahrungen – Wie wir an Krisen wachsen“, über das er in Köln diskutieren wollte – was wir getan haben.

Dieses nachdenkliche, kluge Buch beschäftigt sich mit unserem Umgang mit aktuellen und latenten Herausforderungen, mit existentiellen Fragen nach Identität, nachhaltigem Wirtschaften, kurz: Mit unserer Zukunftsfähigkeit. Den einstigen schneidigen und gelegentlich recht kleinkarierten Parteipolitiker hat Wolfgang Schäuble längst hinter sich gelassen, er ist zum politisch-philosophischen Denker mutiert, den die Sorge um den Erhalt unserer Lebensgrundlagen, das Auseinanderdriften unserer Gesellschaft und die Grenzen wirtschaftlichen Wachstums umtreibt.

„Leben heißt Veränderung – und ich weiß, was das bedeutet“, sagte Schäuble in unserer Diskussion mit Blick auf die Pandemie. „Aber wer denkt, die Veränderung unserer Gewohnheiten sei eine allenfalls vorübergehende Erscheinung, der irrt gewaltig. Corona ist eine Zäsur, wie ich sie in 50 Jahren politischer Erfahrung noch nicht erlebt habe.“ Das sagt der Mann, der die Deutsche Einheit, den Zusammenbruch der Sowjetunion, die Weltfinanz- und die Flüchtlingskrise als politischer Akteur aus nächster Nähe mitbekommen hat.

Auch „vor der Pandemie war nicht alles in Ordnung.“ Aber die vergleichsweise guten Zeiten hätten „zu einer Trägheit geführt, die wir uns nicht mehr leisten können.“ Jetzt hätten wir die verstörende Erfahrung des Kontrollverlusts gemacht, die auch die Abhängigkeit von anderen Regionen der Welt deutlich werden ließ: „Eine schmerzhafte Begegnung mit der Globalisierung“. Angesichts von Klimawandel, bedenklichen Entwicklungen bei der Künstlichen Intelligenz und Massenmigration müsse das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit von der Gesellschaft neu ausgehandelt werden. Was im Klartext heißt, auf bestimmte, als selbstverständlich empfundene Freiheiten zu verzichten. Für eine Demokratie ein wahrer Stresstest. Dennoch ist Schäuble Optimist geblieben. „Krisen sind Treiber von Entwicklungen. Wir stehen vor großen Herausforderungen – das setzt Kräfte und Fantasie frei.“ Gegen Ende zitierte er – auf der lit.Cologne angebracht – den Literaturnobelpreisträger und britischen Premier Winston Churchill: „Lass niemals eine Krise ungenutzt.“ Fazit: Vor solchen alten weißen Männern muss niemand Angst haben, im Gegenteil, sie machen Hoffnung.

An dieser Stelle muss man die lit.Cologne noch einmal ausdrücklich loben, die es mit ihren Veranstaltungen geschafft hat, Köln zu einem wichtigen Diskursort zu machen, der ansonsten von der Geisteswelt in der Regel weiträumig umgangen würde. So schafft es Köln, überregional nicht nur als Heimat des organisierten Frohsinns, eines oft abstiegsbedrohten Fußballclubs und Zielort von päpstlichen Visitatoren wahrgenommen zu werden.

Verändert hat sich auch merklich die politische Stimmung. Das sagt ein anderer weißer alter Mann, nämlich Prof. Manfred Güllner, der sich auf die von seinem Forsa-Institut erhobenen Daten stützt. Die Wahl von Sachsen-Anhalt hat Befürchtungen der CDU – und aller Demokraten – nicht bestätigt, die die AfD vor der Union gesehen haben. Nun hat die CDU die Wahlen deutlich gewonnen, die FDP ist nach zehn Jahren zurück im Landtag und die AfD hat Federn gelassen. Für die Sozialdemokratern sieht es hingegen bitter aus. Mein früherer Kollege Nikolaus Blome twitterte am Wahlabend „SPD sicher im Landtag“ – was angesichts der 8,4 Prozent auch stimmt, aber für die ehedem stolze Partei ein Armutszeichen ist.

Im Bundestrend sieht Güllner die Union bei 27, die Grünen bei 22, SPD und FDP bei 14, die AfD bei 9 und die Linke bei 6 Prozent. Nicht auszuschließen ist, dass der Höhenflug der letzten Wochen nicht reicht, die Grünen ins Kanzleramt zu tragen. Der Wind dreht sich für die Grünen, aus Rücken- wird Gegenwind. Auch scheint Armin Laschet mit seinen persönlichen Umfragewerten den Weg aus dem Keller zu finden. Erstaunlich, was die Bevölkerung zu den Spitzenleuten Laschet, Baerbock und Scholz sagt. Güllner: „43 Prozent der Befragten können sich weiterhin nicht vorstellen, einen der drei Kandidaten fürs Kanzleramt zu wählen, wenn eine Direktwahl möglich wäre.“ Also jede Menge Luft nach oben.

So bleibt das Leben spannend und die Zukunft offen. Und wie sagt Wolfgang Schäuble, diese politische Altersschönheit: „Wir brauchen Zuversicht. Fatalismus ist keine Option. Läge alle Macht beim Schicksal, wäre Politik zwecklos. Ihr Grund liegt im Gestalten.“

In diesem Sinne grüßt Sie, herzlich wie stets,

Ihr
Michael Hirz

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