Newsletter 20. August 2021

Newsletter vom 20.08.2021

Leben wir in einer Zeit, die aus den Fugen gerät? – Jürgen Todenhöfer erklärt, warum man mit den Taliban sprechen sollte

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

ein Virus hält uns mit seinen Mutationen im Griff und Afghanistan fällt vor laufenden Fernsehkameras in sich zusammen. Starkregen und Flutkatastrophe geben uns das Gefühl, keine Sicherheit mehr zu haben – selbst die eigenen vier Wände, unsere Schutz- und Rückzugsräume, sind für viele zur Todesfalle geworden. Ist unsere Welt dabei, auseinander zu fallen?, frage nicht nur ich mich manchmal. Ich sprach darüber mit Jens Lönneker von „rheingold salon„. Seine Antwort ist im Kern kurz und wenig tröstend. „Es ist eine Tatsache: Die Welt gerät aus den Fugen“, antwortet der gebürtige Niedersache nüchtern und begründet seine These.

Mit der Epoche der Romantik – Ende 1700 bis Mitte 1800 – änderte sich das Verhältnis von uns Menschen zur Natur. Sie wird, so Lönneker, weniger als Gefahr gesehen, wie es bis dahin war, sondern gilt als beherrschbar. Jean-Jacques Rousseau, der Philosoph der Aufklärung, machte gar einen natürlichen Urzustand aus, dessen Wesen als „gut“ angenommen wird. Natur gilt als begreifbar. Bis vor kurzem noch stimmte das Verhältnis.

Doch nun hat ein erneuter Wandel eingesetzt: Der Mensch wird der Welt und damit sich selbst zur Gefahr. „Wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen“, erläutert Lönneker und fügt die vom Menschen zu verantwortenden Einflüsse an, welche die großen Katastrophen mutmaßlich geprägt haben. Verengte Lebensräume, in denen Viren von Tieren auf den Menschen übergehen und Corona oder Ebola übertragen, Extremwetterlagen durch Klimawandel, der dem Menschen zugeschrieben wird oder – im Fall Afghanistans – schlichter Hochmut. Der Westen glaubte irrtümlich, einen Vorzeigestaat schaffen zu können. Der Diplom-Psychologe spricht von einem Zustand der „Handlungsnot“, in dem wir uns heute befinden. „Lavieren hilft nicht mehr“.

Natürlich seien durch die Digitalisierung Katastrophen allgegenwärtig geworden und Gefühle von Fakten nicht mehr klar zu trennen. Jeder hat ein Smartphone und kann sein eigener Reporter sein. Taliban schießen Selfies von sich und stellen sie ins Netz. Donald Trump hatte als US-Präsident zu seinen besten Zeiten fast 90 Millionen „Follower“ auf Twitter, die er mit Kurznachrichten direkt bediente, bis er von diesem Medium gebannt wurde. Und dennoch: Da bricht nichts über uns herein. Was geschieht, ist von Menschen gemacht. Diese Entwicklung wurde sogar vorhergesagt, stellt Jens Lönneker fest. Nun müssten wir handlungsfähig bleiben. Sonst gerate tatsächlich alles aus den Fugen.

Vorhergesagt wurde der Ausgang des Afghanistan-Kriegs. Auch in seinem jüngsten Buch „Die große Heuchelei“ schrieb Jürgen Todenhöfer, was er seit 20 Jahren sagt: „Der Westen oder die USA werden nie gewinnen“. Sie hätten auf blutrünstige und korrupte Verbündete gesetzt. 90 Prozent der Afghanen lebten unter der Armutsgrenze. Nur in der Säuglingssterblichkeit stehe das Land traurig an der Weltspitze. Es herrschten Drogenproduktion, Korruption und Kriminalität. Für dieses System habe die Armee nicht kämpfen wollen. Deshalb sei sie buchstäblich zerfallen. Zumal US-Präsident Biden einen kapitalen Fehler gemacht habe und ohne Vorbedingung ein Datum für den US-Truppenabzug genannt habe. Die Taliban mussten nur warten . . .

Seit Ende 1979 ist Jürgen Todenhöfer regelmäßig nach Afghanistan gereist. 1980 zog er mit einer kleinen Gruppe von Mujaheddin zu Fuß durch das Land. Weil er deren Motive kennenlernen wollte, sei er ihnen „so nah wie möglich“ gekommen, berichtet er. Auch später hat ihn diese Devise geleitet. So sind seine bedrückenden Bücher und Reportagen aus Syrien, dem Jemen, Nordkorea oder dem IS-Staat entstanden.

Todenhöfer war viele Jahre CDU-Bundestagsabgeordneter, Vize-Chef im Burda-Verlag, Bestseller Autor. Die Ankündigungen der Taliban verfolgt er mit Skepsis, warnt aber davor, Afghanistan erneut sich selbst zu überlassen. „Das ist nur eine Chance für die radikalen Kräfte,“ sagt der 80jährige. Die Welt erlebe zur Zeit im Iran, wie im Schatten internationaler Abkehr radikale Kräfte erstarken. Man müsse im Gespräch bleiben. Insbesondere den Deutschen falle eine besondere Rolle zu. „Wir sind beliebt im Land. Wir sind ein Faktor.“ Todenhöfer bedauert, dass Berlin sein Botschaftspersonal abgezogen habe. Gespräche müssten und könnten nur in Kabul geführt werden. Ohnehin bekomme man vieles nur im Gespräch mit denen durchgesetzt, die die Macht haben, den Machthabern.

Ich weiß, dass Jürgen Todenhöfer solche Gespräche angelastet werden. Andererseits hat er in den 70er Jahren etwa durch den Kontakt zum chilenischen Diktator Augusto Pinochet die Freilassung zahlreicher politischer Gefangener erwirkt. Ein mir vorliegender Briefwechsel mit chilenischen Behörden, dem Büro Pinochets sowie Amnesty International illustriert, wie zäh und langwierig dieser Prozess war. Die Freilassungen, die Amnesty zu Dankesschreiben an Todenhöfer veranlassten, stellten sich nur ein, weil man im Gespräch miteinander blieb, das übrigens von nüchternem Ton dem Diktator gegenüber geprägt war.

Im Gespräch bleiben – das ist eigentlich ein Vorsatz, den wir auch fassen können. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein sommerliches Wochenende und freue mich, dass wir vom Kölner Presseclub wieder da sind.

Vielleicht sehen wir uns – siehe nachfolgende Einladung – am Mittwoch, 25. August, um 19.30 Uhr im Hotel Excelsior Ernst? Ich würde mich freuen.

Herzliche Grüße
Ihr

Peter Pauls

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