Newsletter 23. April 2021

Newsletter vom 23.04.2021

Über den natürlichen Schrumpfungsprozess der Union, die wertkonservative Wählerschaft der Grünen und die Frage, ob wir gerade eine Revolution erleben.

Liebe Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

Politik ist die Kunst des Möglichen. Diese kluge Definition verdanken wir Otto von Bismarck. Aber Politik ist auch die Kunst der Verpackung, der Handel mit Hoffnungen und Ängsten. Das beinhaltet die Fähigkeit, das Lebensgefühl eines Landes zu treffen, Projektionsfläche für Erwartungen zu werden und das in Programme zu gießen, kurz: Ein Bündnis mit dem Zeitgeist einzugehen und Personen zu präsentieren, die das verkörpern. Diese Woche hat gezeigt, wem das gelingt und wer den Anschluss verpasst zu haben scheint. Gäbe es einen Wettbewerb der politischen Verpackungskünstler, wären die Grünen derzeit unumstrittene Sieger. Erstmals in der Geschichte der sog. Sonntagsfrage liegen sie laut Forsa auf dem ersten Platz – mit erheblichem Abstand zur Union.

In CDU und CSU hatten die Grünen allerdings auch ihre wirkungsvollsten Unterstützer. Die Union, die bislang auf ein Abonnement fürs Kanzleramt hoffen konnten, hat es geschafft, mit ihrer Suche eines Merkel-Nachfolgers ihre Wählerbasis dramatisch abzuschmelzen und die ohnehin wenig ausgeprägte Autorität ihres Kanzlerkandidaten weiter zu beschädigen. Die Kraft der Selbstzerstörung ist offensichtlich größer als die der politischen Gegner.

War’s das dann mit der letzten verbliebenen Volkspartei? Das habe ich den Mann gefragt, der als kühler Analytiker dem politischen Deutschland regelmäßig den Puls fühlt, Jörg Schönenborn. Er ist Kopf und Gesicht des ARD-Deutschlandtrends. Sein Befund:

„Die Union ist in einem natürlichen Schrumpfungsprozess, den sie bisher nur im Einzelfall durchbrechen konnte. Tief verwurzelt ist sie nur noch in den älteren Generationen. Ihr Potential verringert sich von Wahl zu Wahl, schlicht weil ein Teil der Wählerschaft stirbt. Bei den Jüngeren kann sie das nicht annähernd ausgleichen. Wie die SP hat sie in dieser Legislaturperiode bei sämtlichen Landtagswahlen (mit der einen Ausnahme Bremen) Stimmanteile verloren. Dem kann sie nur entgegenwirken, wenn sie das Vertrauen stiftet, gut und zuverlässig zu regieren. Dieser Ruf ist gerade ziemlich ramponiert.“

Schönenborns Erklärmodell für den atemberaubenden Höhenflug der Grünen ist gewissermaßen das Gegenstück zur Unions-Analyse: „Die Grünen haben einen positiven Generationeneffekt. Während der Union die Wählerinnen und Wähler wegsterben, sind sie seit Jahrzehnten in jeder neuen Wählergeneration stark. Dadurch hat sich ein Fundament aufgebaut. Mit dem Gründungsthema Umwelt und Klima haben sie ein Versprechen, das Mehrheiten mobilisieren kann. Da ihre Wählerschaft gut verdienend und in Teilen wertkonservativ ist, ist die Gretchenfrage das Verhältnis zur Linkspartei. Wenn sie für diese Gruppe die Sorge eines Linksbündnisses nicht ausräumen kann, werden die Zahlen bröckeln.“

Die unterschiedlichen Inszenierungen auf der Berliner Bühne haben in dieser Woche aber erst einmal den Grünen Wind unter die Flügel gebracht. Sie, lange als unverantwortliche und ewig streitende Chaotentruppe geschmäht, zeigten ein Bild von Disziplin, Geschlossenheit und Anstand im Umgang, der jedes konservative Herz zum Hüpfen bringen musste. Die ehemalige Bürgerschreck-Partei als letzter Hort bürgerlicher Werte – wer hätte das vor Jahren noch gedacht? Dennoch: Zur Moderne gehört die Entzauberung, es ist Teil ihrer DNA. Auch die Grünen werden einen Ikarus-Moment erleben. Den Wunsch einer wohlstandsverwöhnten Gesellschaft, das Land zum Nulltarif in eine ökologische und wirtschaftliche Wellness-Oase zu verwandeln, kann niemandem gelingen. Richtet man den Scheinwerfer von den grünen Frontfiguren aufs Programm, bekommt man eine Ahnung von künftigen Verteilungskonflikten und Belastungen. Zum Glück der Grünen trägt auch die freundliche Begleitmusik zahlreichen Medien bei. Peinlicher Höhepunkt war das Beifallklatschen der Moderatoren am Ende der 45-minütigen Dauerwerbesendung für Annalena Baerbock im Privatfernsehsender Prosieben – statt professioneller Distanz gerierten sich die beiden Befrager als unkritisches Fankurven-Duo.

Fragt man Jörg Schönenborn nach einer möglichen Wechselstimmung nach 16 Jahren Unions-Politik im Bund, winkt er ab: „Das kann ich nicht erkennen. Die wirtschaftliche Entwicklung seit 2007 ist fast durchgängig positiv. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben vor allem von einem ständigen Angebot an Arbeitsplätzen profitiert, auch die Reallöhne sind in den letzten Jahren wieder gestiegen. Die Erwartungen sind klar: Das Erreichte sichern. Und Antworten finden auf Herausforderungen wie Digitalisierung, Klimawandel, Konkurrenz zu China. Das riecht für mich nicht nach Revolution.“

Dennoch, dieses Wahljahr dürfte das spannendste der letzten Jahrzehnte sein. Nach 16 Jahren Merkel hat sich das Vertrauen in die Union als quasi geborene Regierungsformation verflüchtigt, aus Schwarz-Grün könnte Grün-Schwarz werden. Überzeugende Koalitionsalternativen sind nicht sichtbar. Ampel? Inhaltlich ist die Kluft zwischen staatsinterventionistischen Grünen und einer wirtschaftsliberalen FDP kaum überbrückbar. Grün-Rot-Rot? Das geht schon außen- und sicherheitspolitisch nicht, von den Zahlen ganz zu schweigen.

Nicht nur in dieser Woche scheint die SPD abgemeldet. Ihr Führungspersonal agiert irgendwo am Bühnenrand, ihr Spitzenkandidat Olaf Scholz, den sie als Vorsitzenden abgelehnt hat, bringt ebenfalls nicht den erhofften Schub. Echte Autorität und ein glaubhaftes Stabilitätsversprechen geht von ihr auch nicht aus. Besonders bitter muss das für sie sein angesichts des Umfrage-Sinkflugs der Union. Die Zeit von CDU/CSU und SPD als kommunizierende Röhren scheint mit der alten Bundesrepublik in die Geschichtsbücher eingegangen zu sein. Ein abgeschlossenes Kapitel.

Es grüßt Sie herzlich wie stets

Ihr
Michael Hirz

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