Newsletter 29. April 2022

Newsletter vom 29.04.2022

Zeitenwende: Der Abschied von Überzeugungen – Forsa sieht Mehrheit gegen Boykott der Gaslieferungen

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

es ist Zeit, endlich mit einem Vorurteil aufzuräumen: Nein, in Deutschland geht nicht alles langsam. Sondern manchmal so schnell, dass man kaum hinterherkommt. Wollte das größte EU-Land vor einigen Wochen noch die Militärhilfe für die Ukraine auf die Überlassung von 5000 Helmen beschränken (SPD-Verteidigungsministerin Lambrecht: „Ein deutliches Signal“), will es nur kurze Zeit später schwere Waffen schicken. In dieser Frist bekommt man sonst kaum einen Termin bei der Kölner Stadtverwaltung.

Auch die Grünen, grundsätzlich überzeugte Anhänger von Tempolimits, gingen plötzlich auf die politische Überholspur: Möglichst sofort solle Deutschland die Ukraine massiv mit Panzern und anderem Kriegsmaterial unterstützen. Am vehementesten forderte das ausgerechnet Anton Hofreiter vom linken Flügel, der vom Erscheinungsbild noch am ehesten der antimilitaristischen Gründergeneration entspricht. Doch jetzt scheint auch für die Partei der Zeitpunkt gekommen, den pazifistischen Tarnanzug einzumotten und aus Flugscharen wieder Schwerter zu machen.

Die Freien Demokraten ziehen derweil die Spendierhosen an. Haushaltsdisziplin und Schwarze Null? Das war doch ein Versprechen von gestern. Heute gilt es, mit Haushaltstricks und Rekord-Neuverschuldung die Stimmung im Wahlvolk aufzuheitern. Ist der Spritpreis zu hoch? Dann muss ein Tankrabatt her. Ökonomischer Unsinn, sagen Experten wie der IFO-Chef Prof. Clemens Fuest. Aber was soll’s, bei den besserverdienenden Autofahrern kommt es hat gut an. Und künftige Generationen, die die Rechnung begleichen müssen, können eben heute noch nicht wählen.

Natürlich lässt sich der Abschied von Überzeugungen in Einzelfällen begründen angesichts des unerträglichen Leids im europäischen Nachbarland. Aber wenn es mehr sein soll als ein emotionaler Reflex auf die Bilder geschundener Menschen und zerbombter Städte, braucht es ein Ziel für das Handeln, eine Strategie. Was passiert, wenn immer mehr Kriegsmaterial in das Konfliktgebiet geschickt wird? Wem hilft es wirklich? Welchen Einfluss hat das auf eine Eskalation des Konflikts? Darüber würde man gerne etwas erfahren

Mit Raketen gegen Einkaufszentren – Russlands schmutziger Krieg in der Ukraine.
Was geschieht, wenn immer mehr Kriegsmaterial in die Konfliktzonen geschickt wird?

Quelle: KMimages

Die Ukraine soll siegen, sagen die USA. Militärisch? Wie sähe das aus? Am unwahrscheinlichsten scheint, dass der Herr im Kreml klein beigibt, wenn er noch Waffen in der Hand hat, die den Krieg eskalieren können. Wird er tatenlos zusehen, wenn Europäer und Amerikaner die Ukraine aufrüsten? Oder steigt nicht das Risiko eines Einsatzes von Atomwaffen und einer Ausweitung des Krieges auf andere Länder bis hin zu einem Dritten Weltkriegs?

Das ist keine Kritik, es sind Fragen. Und offensichtlich teilen sie sehr viele Bundesbürger. In einer repräsentativen Befragung hat das Meinungsforschungsinstitut Forsa festgestellt, dass die bisherige zurückhaltende und besonnene Haltung von Bundeskanzler Olaf Scholz eine deutliche Mehrheit in der Bevölkerung findet. Allerdings vermutet Forsa-Chef Manfred Güllner, dass die jetzt verkündete „abrupte Kursänderung von Olaf Scholz neuen Unmut auslösen dürfte“. Größte Sorgen bereiten den Bürgerinnen und Bürgern ein möglicher Dritter Weltkrieg (65 Prozent), die finanzielle Belastung durch weiter steigende Preise (65) und dass die Energieversorgung durch den Ukraine-Krieg gefährdet wird (47).

Geändert hat sich die Einstellung zu ein einem Stopp der russischen Gaslieferungen. Gab es am Anfang der Invasion eine Mehrheit für einen Boykott des Erdgases aus Russland, sprechen sich inzwischen 56 Prozent der Befragten dagegen aus. Lediglich bei den Anhängern der Grünen hat die Boykott-Idee noch eine Mehrheit. Und auch hier müsste die Frage beantwortet werden, wem ein solcher Boykott wie schadet. An einem stark geschwächten Deutschland könnte in diesen ohnehin so krisenhaften Zeiten kaum jemand ein Interesse haben – außer wahrscheinlich Wladimir Putin.

In diesem Sinne grüßt Sie nachdenklich, doch herzlich wie stets,

Ihr

Michael Hirz

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