Newsletter 26. November 2021
Newsletter vom 26.11.2021
Mehrheit für Schließung der Weihnachtsmärkte
Rödder: Die bürgerliche Mitte ist ohne vernehmbare Stimme
Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,
zur Lebenskunst gehört seit eh und je, unterscheiden zu lernen. Zwischen gut und böse, richtig und falsch, oben und unten. Hier hat der Kölner einen Erfahrungsvorsprung, weil er seit 2000 Jahren gelernt hat, zwischen linksrheinisch und rechtsrheinisch sauber zu trennen. Anders gesagt: Der Kölner hat damit ein feines Gespür für Risse in der Gesellschaft. Womit wir bei Prof. Manfred Güllner wären, der nicht nur als Meinungsforscher (Forsa) ein anerkannter Experte für den Zustand einer Gesellschaft ist, sondern als gebürtiger Rheinländer und (Wahl-)Kölner auch die offensichtlich genetisch notwendigen Voraussetzungen mitbringt.
Er überrascht jetzt mit der Erkenntnis, dass Corona die Gesellschaft keineswegs spalte. Das sei „eine Mär“. Vielmehr habe es „während des gesamten Verlaufs der Corona-Pandemie einen großen Zusammenhalt der übergroßen Mehrheit der Menschen“ gegeben. Allerdings diagnostiziert er „eine tiefe Kluft zwischen dieser großen Mehrheit, die die zur Bekämpfung der Pandemie getroffenen Maßnahmen immer für richtig oder sogar nicht weitgehend genug bewertete, und einer sich immer lautstärker artikulierenden radikalen Minorität.“ Auf diese Minderheit werde („Wie bei den Anfängen der AfD oder von Pegida“) zu viel Rücksicht genommen – weil sie offensichtlich überschätzt wir.
Güllner wäre nicht Güllner, wenn er das Ganze nicht mit Zahlen untermauerte. 74 Prozent der Anhänger demokratischer Parteien sind danach überzeugt, dass die von der Ampel-Koalition beschlossenen Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung nicht ausreichen. 86 Prozent dieser Bevölkerungsgruppe halten eine flächendeckende 2-G-Regel für richtig, 73 Prozent befürworten eine Schließung der Weihnachtsmärkte. Spannend ist der Blick auf die Anhänger der Ampel-Parteien: Während nur rund 25 Prozent der Anhänger von SPD und Grünen (übrigens auch der Union) das beschlossene Ende epidemischen Notlage gutheißen, sind es bei der FDP knapp 40 Prozent. Nur bei den AfD-Anhängern (55 Prozent) sind es mehr. Was diese Diskrepanz für die Zusammenarbeit der drei Ampelparteien bei ihrer ersten wirklich großen Herausforderung, der Pandemie-Bekämpfung, heißt, wird man sehen. Gemeinsamer Aufbruch, das ist klar, braucht Konsens in der Lageeinschätzung.
Während dem Sieger immer die Bühne gehört, liegt der Besiegte öffentlich kaum beachtet in seinem Elend. Das erlebt gerade die Union, die am 26. September von den Wählern als Scheinriese enttarnt worden ist. Führungs- und orientierungslos irrt die CDU seitdem durch den politischen Ideenladen, auf der Suche nach Führungspersonal und nach sich selbst. Zur Genesung gehört, so steht es schon im ärztlichen Hausbuch, erstmal die richtige Diagnose: Nur ein Bein- oder doch ein Genickbruch? Als Spezialist empfiehlt sich seit geraumer Zeit schon der Historiker Prof. Andreas Rödder, derzeit lehrt er an der weltberühmten Johns-Hopkins-University in den USA.
Ein Anruf bei ihm in Washington soll Aufklärung bringen. „Was hat die Union falsch gemacht, warum hat sie ihren Status als Volkspartei verloren?“, wollte ich von Rödder, der CDU-Mitglied ist, wissen. „Die Union hat sich zu sehr ausschließlich darauf konzentriert, zu regieren. Sie hat ihre Konturen verloren.“ Sie habe sich inhaltlich beliebig gemacht und dem (rot-grünen) Mainstream angepasst: „Was ist die Union mehr als die Programmatik von SPD und Grünen minus zehn Prozent? Darauf haben führende Christdemokraten keine Antwort mehr gehabt.“ Ergebnis sei, dass die bürgerliche, die rechte Mitte ohne vernehmbare Stimme sei.
Nun gehört zum Kurieren nicht nur eine scharfe Diagnose, sondern auch eine wirksame Therapie. Das weiß natürlich auch Andreas Rödder und präsentiert sie in einem Plädyer für einen aufgeklärten Konservatismus. Wer in Konservatismus geistige Enge, Klerikalismus oder Ewig-Gestriges sieht, den korrigiert Rödder schnell: „Konservativ sein heißt nicht, gegen Wandel zu sein. Sondern Wandel so zu gestalten, dass er für die Menschen verträglich ist.“ Sein Vorbild dafür findet er weniger in Deutschland, wo konservativ nicht zuletzt wegen seines historischen Versagens ein fast toxischer Begriff ist. Er verweist auf die lange und letztlich ausgleichende Funktion des britischen Konservatismus, der jahrhundertelang für maßvollen Fortschritt stand. Mit Gleichgesinnten hat er eine Denkfabrik gegründet, die der bürgerlichen Mitte im schrillen Konzert zwischen linker Identitäts- und Genderpolitik sowie Ressentiment-befrachteten Provokationen wieder Gehör verschaffen will. Der öffentlichen Debatte und der politischen Kultur kann diese intellektuelle Aufrüstung mit Sicherheit nicht schaden – und der CDU möglicherweise wieder Gewicht verleihen. Um sich das zu wünschen, muss man kein Christdemokrat sein.
n diesem Sinne grüßt Sie, herzlich wie stets,
Ihr
Michael Hirz
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