NEWSLETTER 6.10.2023

Warum Damian Boeselager aus Sorge um Europa „Volt“ gründete und viele eine neue Links-Partei kennen, die es noch gar nicht gibt

 

 

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

sind Sie in Sorge, dass Populismus in der Weltpolitik überhandnimmt? Dass man etwas gegen den Zerfall Europas tun muss? Damian Boeselager erging es so, als er im November 2016 in New York erlebte, wie Donald Trump die US-Präsidentschaftswahl gewann. Es war das Jahr des Brexits, des Höhenflugs von Marine Le Pen und der AFD. Viele machten sich Sorgen. Damian Boeselager beließ es nicht dabei und tat etwas Ungewöhnliches. Mit einer Französin und einem Italiener gründete der heute 35-jährige kurzerhand die pan-europäische Partei „Volt“.

Eine Partei zu gründen ist schwer. Sie in Parlamente zu bringen, dort zu halten und zu professionalisieren (Politik ist auch ein Handwerk) noch schwerer. „Nach fünf Tagen waren wir mehr. Und dann wurden wir noch mehr“, erinnert sich Boeselager. In der Europawahl 2019 zog er als einziger Volt-Abgeordneter ins Brüsseler Parlament ein. Angetrieben von einer Mischung aus Fleiß, Überzeugungskraft und Freude an der Sache, hat der frühere McKinsey-Berater an 25 Gesetzesvorhaben mitgewirkt, an sechs als verhandlungsführender Berichterstatter. Seinen Rechenschaftsbericht finden Sie hier.

Für die Europawahl 2024 droht eine Sperrklausel. Deutschland hat die gesetzlichen Grundlagen dafür bereits geschaffen und Volt kann das an den Lebensnerv gehen. In der Wahl von 2019 holte die Partei hier 0,7 Prozent. Zu wenig angesichts der Hürde von mindestens zwei Prozent, die im Raum steht. Dennoch habe ich von Boeselager keines dieser scharfen und polarisierenden Worte gehört, die zum Alltagsbestandteil von Politik geworden sind. Falls Ihnen der Name Boeselager bekannt vorkommt – der Großvater gehörte dem Widerstandskreis vom 20. Juli 1944 an.

Mut und Zuversicht sind offenbar enorme Energiequellen. „Versuchen ist besser als zuschauen“, sagt Boeselager im Gespräch. Seine Politik sei wertegesteuert: „Mein Traum ist, dass andere unsere Ziele stehlen.“ Ich freue mich, dass dieser aktive Parlamentarier unserer Einladung gefolgt ist und uns am Dienstag, 24. Oktober, 19.30 h im „rheingoldsalon“ (Hohe Straße 160-168) Rede und Antwort steht. Michael Hirz und ich moderieren.     

Was mir noch auffiel, ist Boeselagers Respekt vor Andersdenkenden. „Ich genieße unterschiedliche Perspektiven“, sagt er. Und: „Wenn es dir egal ist, ob dein Name auf Ideen steht, kannst du erfolgreich sein.“ Wichtig sei, dass die Europa-Politik transparent werde. Ursula von der Leyen sei in einem „völlig undurchsichtigen Verfahren“ von den 27 Länderchefs gewählt worden. Die EU-Kommission verfüge zudem über immense Befugnisse, ohne den Wählern gegenüber rechenschaftspflichtig zu sein. Kurzum: Ich erwarte einen spannenden Abend.

Klar ist, dass junge Parteien es schwer haben. Als Jürgen Todenhöfer vor drei Jahre eine eigene Partei gründete, gab ich ihm insgeheim dennoch gute Chancen. Jede seiner Veranstaltungen, die ich besuchte, war bis auf den letzten Stuhl besetzt – ob in der Kölner Volksbühne mit 402 oder der Essener Lichtburg mit 1250 Sitzplätzen. Sein Publikum sind oft Deutsche mit muslimischem Hintergrund, die sich öffentlich nicht ausreichend wahrgenommen fühlen. Das Umfrageinstitut Insa sah das Potential von „Team Todenhöfer“ laut seinem Gründer wenige Wochen vor der Wahl bei bis zu zwölf Prozent. „Wenn sie jetzt noch ins Fernsehen kommen, gehen ihre Werte durch die Decke“, sagten die Meinungsforscher.

Doch dazu kam es nicht. Seit Todenhöfer nicht mehr CDU-Mitglied ist, machen deutsche Medien – anders als internationale Häuser – einen Bogen um den erfahrenen Politiker. Die Vertreter anderer kleiner Parteien könnten sich darauf berufen, wenn auch sie ins Fernsehen oder die Zeitungen drängen. Anders gesagt: Als Chefredakteur, der ich viele Jahre war, hätte auch ich Damian Boeselager nicht einladen können. Mögliche Mitbewerber hätten zurecht Gleichbehandlung gefordert.  

Die Angst des Wählers vor dem Verlust der eigenen Wählerstimme durch die Fünf-Prozent-Hürde schade nicht nur seiner Partei, sondern auch allen anderen, die etwas bewirken wollen, resümiert Todenhöfer. Offenbar könne man Veränderungen nur herbeiführen, wenn man einer traditionellen Partei beitrete. Ob er frustriert sei? „Auch Rom wurde nicht an einem Tag erbaut“, entgegnet der 82jährige. Die zentrale Frage sei, wie demokratisch diese Praxis ist. „Warum gibt es in Deutschland kein Vorwahlsystem wie in den USA?“ Eine Regelung jedenfalls, die Neubewerbern hilft, wahrgenommen zu werden?

Vermutlich erlebt die Bundesrepublik schon bald die Geburt einer weiteren Partei. Sahra Wagenknecht inszeniert seit Monaten die Abspaltung von der Linkspartei, der sie noch angehört. Ihre Botschaften tauchen in Schlagzeilen und Nachrichtensendungen auf. Das führt dazu, dass eine Partei, die noch nicht existiert, bereits jetzt bekannt ist.

Taktisch ist das klug. Doch auch hier gilt: Macht das Beispiel Schule, kann eine Zersplitterung der politischen Landschaft eintreten, die durch Sperrklauseln eigentlich verhindert werden soll. Die Weimarer Republik indes ist an Zersplitterung sicher nicht gescheitert.

Vergangenen Freitag konnten Sie durch ein technisches Versehen den Podcast von Susanne Hengesbach über die Einsamkeit des Kunden nicht anklicken. Aber diesmal. Jeder, der mal versucht hat, auf einer der gefühlt kilometerlangen Etagen eines Warenhauses jemanden zu finden, der einen sachkundig berät, kennt das. Wenn Shopping zum Halbmarathon wird finden Sie hier.  Viel Spaß beim Hören.

 

Ich wünsche Ihnen ein schönes, spätsommerliches Wochenende,

Ihr

Peter Pauls