NEWSLETTER 15.12.2023

Wie ein „Nein“ der Kölner IHK den eigenen Dachverband irritiert und NRW zum vorgezogenen Braunkohle-Ausstieg Zustimmung organisiert  

 

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

 

Sie kennen Zeitraffer-Aufnahmen. Man beobachtet, wie ein Krokus in kürzester Zeit aus der Erde wächst. Der Effekt entsteht, weil nur wenige Bilder in der Minute aufgenommen und aneinandergereiht werden. Dreht man am Geschwindigkeitsregler, laufen die Bilder schneller – und damit scheinbar das Wachstum. Doch der Vorgang selbst wird nicht beschleunigt.

Manchmal frage ich mich, ob die Düsseldorfer Landesregierung den Ausstieg aus der Braunkohleförderung in NRW einer Zeitraffer-Betrachtung unterworfen hat. Als ich im März 2021 zum Thema recherchierte, galt bereits das Ende der Förderung bis 2038 als ehrgeizig. In der Zwischenzeit – und eine Landesregierung weiter – wurde das Ende auf 2030 vorgezogen, also ein noch ehrgeizigeres Ziel fixiert.

Das wirkt, als könne man diesen Prozess sorglos steuern wie einen Geschwindigkeitsregler, und natürlich alles unter Beibehaltung der selbst gewählten Ansprüche: Kein Industrie-Arbeitsplatz soll wegfallen in der Region, in der bis zu 30.000 Stellen direkt oder indirekt an der Kohleförderung hängen. Von preiswerter, garantierter Energielieferung abhängig sind auch hunderttausende weiterer regionaler Arbeitsplätze in Chemie, Maschinen- und Automobilbau.

Spätestens seit dem Beginn des Ukraine-Krieges geht die Aufgabenstellung in Richtung „überfordernd“. Mit dem Wegfall des preiswerten russischen Gases weist das Ausstiegskonstrukt eine Lücke auf. Wenn Wind und Sonne Pause machen, muss auch das überbrückt werden. Die Planung sieht dafür als Energiefeuerwehr Kraftwerke vor, die aber bisher nur auf dem Papier existieren.

Die chemische Industrie, nicht nur die der Region um Köln, spricht von einer unsicheren Zukunft und plant fürs Ausland. €10 Milliarden investiert die BASF in China. Bayer strukturiert um und Matthias Zachert, Chef des Lanxess-Konzerns, warnt, wie viele andere, offen vor einer De-Industrialisierung. Auch Ford verändert durch die Produktion von E-Mobilen in Köln seine komplette Wertschöpfungskette. Bisher war die Region gefragt. Doch Komponenten für Elektromobile gibt es günstig auf dem Weltmarkt.

Es bedarf einer solchen Vorrede, um die Abwegigkeit zu ermessen, die sich um einen Konflikt der Kölner Industrie und Handelskammer (IHK) und deren Präsidentin Nicole Grünewald mit ihrem Dachverband „IHK NRW“ rankt, der für die 16 Kammern des Bundeslandes sprechen will. Die streitbare Unternehmerin verweigert ihre Unterschrift unter den von der schwarz-grünen Landesregierung vorgelegten „Reviervertrag 2.0“, in dem der Kohleausstieg 2030 bekräftigt wird. Kabinetts-, Landtags- und Ratsmitglieder, Verbände, Bezirkspräsidenten, Kommunen, Handwerks- und benachbarte Industrie- und Handelskammern – alle haben sie den Vertrag unterschrieben (lesen Sie selbst)  Nur die IHK Köln nicht.

Vom Dachverband „IHK NRW“ wird Grünewald bzw. die IHK Köln nun als Störenfried ausgemacht. In der Tat verfügt die Kommunikationswissenschaftlerin Grünewald über eine Konfliktfähigkeit, die an Maggie Thatcher erinnert. Streit geht sie nicht aus dem Weg und bequem ist sie sicher auch nicht. Aber soll sie das sein? Und was ist so falsch an ihrem Weg, dass man sie nun herausdrängen muss?

Die jüngste Entwicklung: Die Kölner IHK tritt aus dem Dachverband aus. Grünewald legt ihr Amt als Vizepräsidentin in dem Gremium nieder. „IHK NRW“ reichte das nicht, berichtet sie. Zusätzlich zum eigenen Rücktritt wurde sie nun als Vizepräsidentin abgewählt, was mich erneut an England erinnert. Dort richtete man den Staatsmann Oliver Cromwell 1661 hin. Formal zumindest, denn er war drei Jahre vorher bereits verstorben. Also musste der Leichnam herhalten. Damals wie heute scheinen die Nerven blank zu liegen.

Vermutlich soll die geballte Fülle an Billigung per Unterschrift für ein Bekenntnis aller stehen. Als handele es sich um eine Haltung wie den Kampf gegen Diskriminierung zum Beispiel. Aber der Kohleausstieg ist eine komplexe technische, planungsrechtliche und letztlich industriepolitische Angelegenheit. Bekenntnisse und Gleichschritt helfen nur begrenzt weiter, ein kühler und klarer Kopf indes deutlich mehr, vielleicht auch Diskussionen und abweichende Meinungen.

Und siehe da: Bekenntnis- und die Arbeitsebene klaffen auseinander. Es fehle an operativer Umsetzung des guten Willens in praktische Handlungsschritte, klagen Beteiligte. NRW habe bisher keine Strategie vorgelegt, wie die Stromversorgung nach 2030 gesichert sein soll, merkt Grünewald an. In den behördlichen Strukturen werde weitergearbeitet, als gebe es keinen Zeitdruck durch Strukturwandel, kritisieren Dritte. Zudem sei bisher kein einziger neuer Arbeitsplatz geschaffen worden – außer in der Struktur der Zukunftsagentur selbst, die Arbeitsplätze erst schaffen soll. Nach wie vor gilt der Satz: Selbst wenn Tesla sich hier ansiedeln will, man könnte dem Autobauer keine Fläche bieten.

„Die Ketzerin“ überschrieb das Magazin Cicero treffend einen Beitrag meines Kollegen Michael Hirz über die Kölner IHK-Präsidentin und deren Widerstand. Man werde den Ausstieg „kritisch und konstruktiv“ begleiten, zitiert die Rheinische Post den Hauptgeschäftsführer der IHK Mittelrhein, Jürgen Steinmetz, der den Reviervertrag 2.0  unterzeichnet hat und nun zu den Guten im Land gehört. Härte nach innen, geschmeidiges Handeln gegenüber der Obrigkeit. Einmal mehr sorge ich mich um die Wirtschaft dieses Landes.

Themenwechsel: Anfang dieses Jahrtausends hatte er gute Chancen, „Wort des Jahres“ zu werden; denn alle sprachen über ihn, den PISA-SCHOCK. Nun ist er wieder da; der Schock darüber, dass die deutschen Schülerinnen und Schüler laut der Ergebnisse des jüngsten Tests sogar noch schlechter abgeschnitten als vor 23 Jahren. Wie kann das sein, fragen sich Susanne Hengesbach und ihr Neffe Conrad in der aktuellen Podcast-Folge: „Entsetzen im Land der Dichter und Denker . . .“ Hören Sie hier mehr.

Herzlich grüßt

Ihr

Peter Pauls