NEWSLETTER 31.05.2024
Über Feindbilder, albernen Kulturkampf und die Lösung als Problem
Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,
es gehört wohl zu den großen, manchmal gar tragischen menschlichen Schwächen, gegen die eigenen Interessen zu handeln. Bei Kindern mag das noch entschuldbar sein, weil sie die Folgen ihres Handelns noch nicht einschätzen können. Aber Erwachsene mit Anspruch auf Verstand? Sie sollten aus Erfahrung die richtigen Schlüsse ziehen können. Das gilt vor allem in Angelegenheiten, die die gesamte Gesellschaft betreffen, also für die Politik.
Ein Glücksfall in dieser Hinsicht ist mit Köln und dem Rheinland verbunden: Konrad Adenauer. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und der Barbarei der Nazi-Diktatur hatte er erkannt, dass es eine Zukunft für Deutschland nur in einem befriedeten, vereinten Europa geben kann. Das war eine Absage an jede Form von Nationalismus oder zur Rückkehr an den Nationalstaatsgedanken des 19. Jahrhunderts. Mutig und konsequent, gegen viele Widerstände hat er die Aussöhnung mit dem „Erbfeind“ Frankreich verfolgt, den europäischen Einigungsprozess vorangetrieben und das Land im Westen verankert.
Umso erschütternder zu sehen, dass heute vielfach wieder das Heil in einer Renationalisierung gesucht wird, Brüssel und die EU für Nationalisten von Höcke bis Wagenknecht als Feindbild herhalten müssen. Regierungschefs wie der Ungar Orban torpedieren mit ihrer zerstörerischen Blockade-Politik die Gemeinschaft, um dann höhnisch auf ein Versagen der EU zu verweisen. Es ist der schäbige Versuch, aus der Lösung ein Problem zu machen.
Das ist nicht nur perfide Geschichtsvergessenheit, es ist massiv gegen die Interessen der europäischen Völker. Denn geopolitisch, wirtschaftlich und – wie wir jetzt schmerzhaft erkennen müssen – auch verteidigungspolitisch ist gemeinschaftliches Agieren für die Europäer zwingend. Selbst die beiden größten und potentesten Staaten der EU, Deutschland und Frankreich, sind den aktuellen und künftigen Herausforderungen nicht gewachsen. Es sind allenfalls europäische Regionalmächte, keine globalen Player.
Dass allerdings selbst im Land des großen Visionärs Konrad Adenauer das Erbe so fahrlässig verspielt wird, ist fast tragisch zu nennen. Auch geht man mit Lust in einen albernen Kulturkampf, statt sich für die Zukunft zu rüsten. Es geht, schlicht formuliert, um Überlebensfragen des Kontinents. Zentrale Faktoren sind Deutschland und Frankreich, wie es schon Konrad Adenauer erkannt hatte. Aber Verantwortung will auch übernommen werden. Schon Angela Merkel hat die Kraft-Achse vernachlässigt und Olaf Scholz scheint sie noch gar nicht entdeckt zu haben. Eine fatale Ignoranz.
Der Blick durch die nationale Brille reicht nur bis zur Landesgrenze. Das hat sich seit dem Umzug der Hauptstadt von Bonn nach Berlin noch einmal verschärft. „Der Nationalstaatsgedanke liegt in Berlin näher als in Bonn“, sagte mir Paul Bauwens-Adenauer vor Jahren in einem Gespräch. Für den Enkel des ersten Kanzlers hat der Hauptstadt-Wechsel eine starke Konzentration auf das Nationale zur Folge gehabt. „Dabei ist die Nationalstaatsidee spätestens 1945 Bankrott gegangen. Die Lehre für Europa war doch, der Nationalstaat ist nicht die Zukunft. Vor allem wir Deutschen sollten das gelernt haben.“ Deutschland müsse deshalb die treibende Kraft der europäischen Integration sein. „Europa ist das Wichtigste, nicht Deutschland.“
Das ist es auch – in den Sonntagsreden. Unter der Woche sind Brüssel und die EU eine Chiffre für bürokratisches Grauen, für Gleichmacherei, für Regulierungswut. Einer genaueren Betrachtung hält das nicht stand. Natürlich gibt es Fehlentwicklungen, auch Absurditäten. Aber statt die anzugehen und Europa im ureigensten Interesse weiterzuentwickeln, werden populistische Süppchen darauf gekocht. Ein Ergebnis ist, dass selbst die Wahlen zum EU-Parlament zu nationalen Testwahlen verzwergt werden. Statt gemeinsame Projekte ins Zentrum zu stellen, ist dieser Wahlkampf in seiner öden Unambitioniertheit an Tristesse kaum zu überbieten.
Dabei geht es auch um Weichenstellung für den Kontinent angesichts russischer Aggression, chinesischem Machtstreben, einer drohenden Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus. Wie wollen wir künftig leben in einer Welt mit ihren Herausforderungen durch Klimakrise, Migrationsdruck, der realistischen Gefahr durch weitere Pandemien? Wie sagte es Paul Bauwens-Adenauer: „Wir müssen davon wegkommen, Europa wie eine Erbengemeinschaft zu verwalten, wo jeder nur möglichst viel haben will. Europa ist eine Investitionsaufgabe.“
In diesem Sinne grüße ich Sie, herzlich wie stets,
Ihr
Michael Hirz