NEWSLETTER 11.08.2023

Tag 535 des Überfalls auf die Ukraine – Was uns ein Rettungs-Rucksack über die Schrecken des Krieges sagt – Ein Besuch beim Blau-Gelben Kreuz

 

 

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

der heutige Erscheinungstag dieses Newsletters ist Tag 535 des Krieges, in dem die Ukraine sich befindet. 9.369 zivile Todesopfer sind durch die russischen Angreifer zu beklagen, darunter 541 Kinder. 16.646 Menschen wurden verletzt, darunter 1.139 Kinder, melden die UN. Da es sich dabei aber nur um bestätigte Opfer handelt, liegen die tatsächlichen Zahlen weitaus höher. US-Generalstabschef Mark Milley ging bereits Ende 2022 von allein 40.000 getöteten Zivilisten in der Ukraine aus. Leid, Grauen und Zerstörung jedenfalls sind unermesslich und Zahlen können es ohnehin nur unzureichend fassen.

Warum ich den ersten Newsletter nach der Sommerpause mit diesem bedrückenden Thema beginne? Weil eine Art von Alltag im Umgang mit dem Zivilisationsbruch eingetreten ist. Die Nachrichten aus dem Kriegsgebiet sind wiederkehrender Teil des Tagesablaufs geworden und von der Spitzenposition auf Zeitungsseiten oder in der Tagesschau verdrängt worden. Die mehr als eine Million nach Deutschland geflüchteten Menschen aus der Ukraine sind einigermaßen versorgt, die Willkommenszelte an den Bahnhöfen abgebaut. Allein unser Land hat mehr als eine Milliarde Euro an privaten Spendengeldern für die Opfer des russischen Überfalls aufgebracht. Aber der Krieg geht weiter und der obskure Vormarsch der Wagner-Söldner hat die unberechenbare Wesenhaftigkeit dieses Konflikts markiert. Niemand weiß, wohin er sich entwickelt.

Wenn man das deutsch-ukrainische Hilfswerk „Blau-Gelbes-Kreuz“ in der Kölner Südstadt (Marktstr. 27) besucht, dann ist der Krieg in seiner Zerstörungskraft unversehens nah. Auch die Helfer haben sich professionalisiert und Routinen entwickelt. Ford hat dem Verein mit Autos geholfen, mit Experten von Rewe wurden Packstraßen organisiert, um Hilfsgüter zügig umzuschlagen. Der IT-Experte Oleksii Makarenko hat die Bestände digitalisiert und kann mit einem Blick aufs Handy Auskünfte geben, Geschäftsführerin Julia Chenusha stellte mir die „Babybox“ vor, die Mütter in Kriegsgebieten unterstützt, ihre neugeborenen Kinder in den ersten vier Lebenswochen zu versorgen, auch wenn sie sie nicht stillen können. Das kommt häufig vor, wurde berichtet. Zur Box gehört auch eine Baby-Puppe. In der Kölner Lagerhalle blickte sie mich aus runden, großen Kulleraugen an. In Kürze wird dieses Symbol einer heilen Kinderwelt in das Kriegsgebiet geschickt.

Auf unserem Rundgang durch den Speicher für Hilfsgüter wurde schnell klar, dass es letztlich um Gerätschaften geht, die über Leben oder Tod entscheiden können, über medizinische Behandlung oder Siechtum. Julia Chenusha zeigte mir „Medizin Kits“ für Krankenhäuser. Das sind Erst- oder Notfallausrüstungen für zerstörte oder verlassene Hospitäler. „Wenn russische Truppen ein Krankenhaus aufgegeben haben, ist ohnehin meist alles gestohlen oder zerstört worden“, berichtet sie.

Der „Rettungs-Rucksack“ ist unscheinbar und robust, als wolle er mit seinem Träger auf Reisen an die Traumstrände dieser Welt gehen. Doch anhand seines Inhalts kann man die Schrecken dieses Krieges durchdeklinieren. Er dient dazu, Schwerstverletzte zumindest notdürftig zu versorgen. Einige Beispiele: Mit einem Spezialgurt können Beckenbrüche von verschütteten Menschen versorgt werden. Pressverbände bewahren Kriegsopfer vor dem Verbluten, wenn Geschosse Gliedmaßen abgerissen oder Explosionssplitter tiefe Wunden geschlagen haben. Großpflaster für den Brustkorb verhindern den Kollaps der Lunge und damit den Erstickungstod, wenn der Oberkörper getroffen wurde.

Stets und bei allem müssen die Helfer sich fragen, ob es nicht Freund, Freundin oder Verwandte sind, für die sie diese Überlebensmittel verpacken. So sind sie, obwohl in der Ferne, hautnah dabei. „Wir retten Leben und helfen unserer Heimat“, sagt Julia Chenusha.  

Wir gehen vorbei an Generatoren, Feuerlöschern und Stellwänden, die von Dankesbotschaften aus der Ukraine bedeckt sind sowie von aufmunternden Grüßen von Helfern, Spendern und Institutionen, die die Nothilfe zu ihrem Anliegen gemacht haben. Sie geben den vielen Ehrenamtlichen, die dort anpacken, Zuversicht und beeindrucken Besucher wie mich. Vor dem Gebäude des Blau-Gelben Kreuzes wartet ein kleiner Konvoi etwas betagter Notarztwagen, die kurz vor dem Aufbruch in die Ukraine sind, und in einer Ecke stehen mechanisch verstellbare Krankenhausbetten. „In Deutschland werden sie verschrottet und durch elektrisch betriebene Betten ersetzt“, erklärt Julia Chenusha. „Uns helfen sie, wenn wir Krankenhäuser neu einrichten müssen.“

Hat sie eine Nachricht an die Kölner? „Wir danken für die große Hilfe. Aber bitte macht weiter mit“, sagt die Juristin, die seit 15 Jahren in Deutschland lebt. „Helft uns, die Arbeit fortzusetzen.“ Ob Geld-, Sachspende oder Mitarbeit im Lager – wer sich angesprochen fühlt, schreibt an info@blau-gelbes-kreuz.de. Zwei Termine habe ich notiert. In der Nacht zum 12. August finden auf dem Kölner Roncalliplatz bis morgens um 7.30 Uhr zahlreiche Aktionen und Diskussionen statt. Das Blau-Gelbe Kreuz will an die durchwachten Nächte der Ukrainer erinnern, die in steter Furcht vor Raketenangriffen leben. Am Sonntag, 20. August, ab 13 Uhr ist am Kölner Schokoladenmuseum Ukraine-Tag mit Musik, Wettbewerben für Kinder, Verkaufs- und Ess-Ständen. Mehr Informationen hier.

Ein Bild aus dem Käthe-Kollwitz-Museum der Kreissparkasse Köln hat mich kürzlich tief berührt. Wegen Sanierungsarbeiten sah ich es neben anderen ausgeliehenen Werken als Sonderausstellung in der Domschatzkammer. „Mutter, sich über ihre bedrohten Kinder stürzend (Fliegerbombe)“, ist der Titel des Werks von 1924/25. Der vergebliche Reflex der Mutter, ihre Kinder mit dem eigenen Körper vor einer Bombe schützen zu wollen, spiegelt zeitlos das Vernichtungswerk des Krieges. Ein Bild ewiger Gültigkeit der Künstlerin und Mutter Käthe Kollwitz, die einen Sohn im 1. Weltkrieg verlor, zur Pazifistin wurde und von den Nazis mit einem Ausstellungsverbot belegt wurde.

Ich wünsche Ihnen ein nachdenkliches Wochenende.

 

Herzlich grüßt
Ihr

Peter Pauls