NEWSLETTER 26.01.2024

Über den Puls einer verunsicherten Gesellschaft,
harte Zeiten für Optimisten und
einen Baum, an dem sich mancher reibt

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

wenn der Mensch sich nicht wohlfühlt, geht er zum Arzt. Der stellt zuerst einmal eine Diagnose, bevor er mit der Behandlung beginnt. Wenn eine Gesellschaft sich nicht wohlfühlt, fragt sie häufig Demoskopen. So liefern etwa forsa oder der ARD-Deutschlandtrend regelmäßig Stimmungsbilder, die Auskunft über den Zustand unserer Gesellschaft geben. Eines der bekanntesten Gesichter unter diesen Diagnostikern, die Deutschland regelmäßig den Puls fühlen, ist Jörg Schönenborn, Programmdirektor des WDR. Mit ihm habe ich zum Beginn dieses sehr besonderen Jahres gesprochen, eines Jahres, in dem Europa-, drei Landtags- und die US-Präsidentschaftswahlen dramatische Veränderungen bewirken können.

Optimisten haben gerade einen schweren Stand“, sagt Schönenborn, lediglich 13 Prozent der Befragten seien zuversichtlich, 83 Prozent schauten besorgt in die Zukunft. Ein Problem sei dabei auch, dass die Ampelkoalition „kein Gefühl von Aufbruch und Erneuerung“ vermittele. Bei den vielen Sorgen, die in der Bevölkerung grassierten – Klimawandel, Kriminalität, Wohlstandsverlust -, die die Stimmung stark prägten, sticht eine besonders hervor: 2022 war das Jahr mit der größten Zuwanderung seit Beginn der Aufzeichnungen. „Eine Mehrheit der Bevölkerung hat den Eindruck, dass mehr Migranten zu uns kommen, als wir bewältigen können“, so Schönenborn. Damit herrsche der Eindruck von Kontrollverlust des Staates vor. „Dahinter steckt überwiegend keine fremdenfeindliche Einstellung“, interpretiert er, sondern die Befürchtung, „in einer Welt von Krisen und Bedrohungen“ dieser Entwicklung hilflos ausgeliefert zu sein.

Damit rückt die ungeliebte Berliner Ampelkoalition ins Blickfeld, wobei für Jörg Schönenborn relativiert, Kritik an Bundesregierungen und schlechtes Regierungshandwerk seien kein Alleinstellungsmerkmal der streitlustigen Scholz-Truppe. Jedoch habe die Erfahrung der letzten Jahre gezeigt, „dass wir in vielerlei Hinsicht einen schwachen Staat haben: Er hat Mühe, Masken und Impfstoffe zu organisieren, eine Bundeswehr, die unser Land nicht verteidigen kann, eine Bahn, die in ihrem Zustand auch ohne Streik nicht mehr fahren kann“, von Defiziten bei Digitalisierung und Klimaschutz ganz abgesehen. Deshalb sei der Unmut über eine Regierung, die ihre Versprechen nicht einlösen könne, besonders groß.

All das hat zum Erfolg der AfD beigetragen. Die Bindung an Parteien hat über die Jahre deutlich abgenommen, die „Bereitschaft, auch mal Parteien auszuprobieren, über die man früher den Kopf geschüttelt hätte“, ist entsprechend größer geworden. In einer Hinsicht beruhigt Schönenborn: Der Anteil der Menschen mit extremistischen oder ausgeprägt rechten Einstellungen hat sich dabei in den letzten Jahren vielen Studien zufolge auf dem gleichen Niveau gehalten. Das ist eine Minderheit, die aber seit einem halben Jahr von der AfD ungewöhnlich stark gebunden wird. Die Partei schöpft in Umfragen seit dem Sommer ihr Potenzial in hohem Maße aus.“ Auch wenn das Wahlverhalten insgesamt sehr volatil geworden ist, die AfD habe sich „dauerhaft etabliert.“ Allerdings könnte sich mehr als die Hälfte der potentiellen AfD-Wähler eine Rückkehr zu einer Partei der Mitte vorstellen – wenn das Vertrauen in die Kompetenz der anderen Prteien wieder hergestellt wird.

Die Unzufriedenheit mit dem herkömmlichen Angebot an demokratischen Parteien schafft Platz für neue Angebote wie zum Beispiel das gerade gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Das Potenzial dieser Partei läßt sich laut Schönenborn nicht genau beziffern. Interessant sei, dass etwa die AfD weitgehend unabhängig von Führungspersönlichkeiten gewählt wurde, das „BSW nun ganz im Gegenteil auf eine herausgehobene Persönlichkeit“ setze. Darin „liegt sicher eine Chance, vor allem aber ein sehr großes Risiko“.

In der Zersplitterung der Parteienlandschaft sieht Schönenborn die „Gefahr einer Spirale nach unten“. Denn „wenn der Anteil der etablierten Parteien aus der breiten politischen Mitte weiter absinkt, sind sie – siehe Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen – immer mehr auf Bündnisse und Verabredungen angewiesen, die nicht wirklich glaubwürdig erscheinen.“ Je mehr Partner eine Koalition braucht und je weiter diese politisch auseinander liegen, desto weniger wird das politische Ergebnis deren Anhängerschaft befriedigen“. Beim Blick auf das Erscheinungsbild der Ampel wirkt dies wie eine Bestätigung dieser These.

Stimmt diese Analyse auf eine politische Landschaft im Umbruch auch nicht fröhlich, so ist sie zumindest spannend wie lange nicht. Deshalb sind wir im Kölner Presseclub sehr froh, Gerhart Baum für unser Jahresauftaktgespräch gewonnen zu haben. Am 31. Januar ist der ehemalige Bundesinnenminister und große alte Mann der FDP zu Gast im Excelsior Hotel Ernst. Ich bin sehr gespannt und freue mich auf seine Sicht der Dinge. Der streitbare Liberale hat die Politik in Deutschland seit vielen Jahrzehnten nicht nur bewußt erlebt, er hat sie auch maßgeblich gestaltet und geprägt.

Und last but not least der Hinweis auf den Podcast meiner Kollegin Susanne Hengesbach. Sie grübelt, nachvollziehbar und berechtigt, darüber, warum man mittlerweile selbstbestimmt sein Geschlecht selbst bestimmen darf, nicht aber sein Geburtsdatum. Doch hören Sie selbst.

In diesem Sinne grüße ich Sie, herzlich wie stets,

Ihr

Michael Hirz