NEWSLETTER 15.09.2023

Wo Ostdeutschland die Nase vorn hat,

Friedrich Merz irrt und der hyperventilierende Kulturkampf den Falschen hilft

  

 

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

man hat sich dran gewöhnt: Der Westen Deutschlands ist der Motor von Entwicklungen, hier spielt die Musik, wird Wohlstand generiert, Zukunft gestaltet. Der Osten? Na ja, hinkt halt hinterher, immer davon bedroht, abgehängt zu werden. Doch in einem Bereich verzeichnen wir seit Jahren eine Schubumkehr, hier geht der Osten voran, setzt den Trend: Mit dem wachsenden Erfolg der AfD haben die sogenannten Neuen Länder eine Lokomotivfunktion, dort ist die selbsternannte Alternative für Deutschland über weite Strecken schon Volkspartei. Gerade schickt sie sich an, im thüringischen Nordhausen ein weiteres kommunales Spitzenamt zu erobern. Wie kann das sein? Und warum vollzieht sich der Aufstieg der AfD in Ostdeutschland schneller?

„Vor 33 Jahren sind die damaligen DDR-Bürger in einen Zug nach Deutschland eingestiegen, aber viele sind da nie angekommen“, beschreibt Sergej Lochthofen die Entwicklung mit einem Bild. Der Erfurter Publizist und erfolgreiche Buchautor gilt als eine der wichtigsten Stimmen der neuen Bundesländer, seine Zeitdiagnosen sind gefragt. Die veränderte Wirklichkeit habe diejenigen Teile der Bevölkerung überfordert, für die Sicherheit und Überschaubarkeit vor Freiheit rangierten, die in Demokratie und offener Gesellschaft eher eine Bedrohung sähen. Ihre Prägung durch den DDR-Staat habe sie zudem anfällig für autoritäre Muster gemacht, für rechtspopulistisches und rechtsextremes Gedankengut.

Möglicherweise erleben wir im Westen gerade – zeitverzögert – auch eine große Verunsicherung. Die Welt, wie wir sie vielleicht in der Kindheit wahrgenommen haben, löst sich auf. Das Straßenbild ist bunter, was nicht alle Menschen als Bereicherung empfinden, Mitgliedschaften in Kirchengemeinden, Sportvereinen, Gewerkschaften und Chören gelten als uncool, Erfahrungen haben für die Arbeits- und Lebenswelt von heute nur noch eine randständige Bedeutung. Da kommt ein politisches Angebot wie das der AfD gerade recht, verspricht es doch, eine unrealistisch verklärte Vergangenheit wieder herzustellen: Ohne Globalisierung und Migration, hierarchisch geordnet, sozial gesichert. Schon ein flüchtiger Blick in Archive zeigt, dass es eine solche Vergangenheit nie gab – außer in Bullerbü.

Spricht man mit Sergej Lochthofen über dieses Thema, sieht er bei den demokratischen Parteien auch Fehler und Versäumnisse. Beim großen Angst-Thema Zuwanderung erkennt er deutliche Versäumnisse („zu viel Reagieren, zu wenig gestaltendes Handeln“), auch seien notwendige Entscheidungen immer wieder geschoben worden – etwa beim Klimaschutz – mit dem Ergebnis, dass Probleme sich irgendwann stapeln. Dass dann viele Wählerinnen und Wähler von solchen Parteien keine Lösungen mehr erwarten, versteht sich von selbst.

Aber: „Wir haben insgesamt als Gesellschaft eine Stimmung zugelassen, als wäre Deutschland in einem Zustand wie Afghanistan. Das ist natürlich kompletter Blödsinn.“ Das treibe dann nicht der Opposition in Berlin Stimmen zu, sondern sei Wasser auf die Mühlen der Ewiggestrigen, der Systemgegner, der Demokratiefeinde, der Frustrierten, ist Lochthofen überzeugt. Diese These scheint richtig zu sein: Bislang verfängt der Versuch von Teilen der CDU/CSU nicht, mit den Themen Gendern und Wokeness zu punkten. Die Umfragewerte der Union stagnieren, die Sympathien für Oppositionsführer Friedrich Merz liegen unter denen ungeliebter Ampel-Politiker, obwohl – oder weil? – er der konservative Frontmann im Kulturkampf ist. Sein Versprechen, als Vorsitzender der CDU die Zustimmungswerte der AfD zu halbieren, ist er schuldig geblieben. Im Gegenteil, sie sind heute bundesweit doppelt so hoch. Vielleicht ist die deutlichere Abgrenzung zu den AfD-Positionen zielführender, wie sie der smarte Hendrik Wüst in Düsseldorf pflegt, der dem hyperventilierenden Kulturkampf wenig abgewinnen kann, wie er vor Kurzem im Kölner Presseclub bekannte.

Die Immunisierung der Gesellschaft gegen rechtspopulistisches, teilweise rechtsextremes Gedankengut, so lernen wir, scheint schwieriger zu sein als die Entwicklung eines wirksamen Impfschutzes gegen das lebensgefährliche Corona-Virus.

Das Stichwort „braune Brühe“ wäre jetzt die wenig elegante Überleitung zum wöchentlichen Podcast unserer Kollegin Susanne Hengesbach. Aber das wäre natürlich etwas billig, also verzichte ich darauf, auch wenn es bei ihr unter anderem um Kaffee in seinen vielfältigen Erscheinungsformen geht. Allerdings: Eine Espresso-Maschine in der Preisklasse eines Kleinwagens ist noch lange kein Garant für echte Kaffeequalität. Und überhaupt, Fine Dining und Sterne-Küche sind das eine. Aber wie sieht es sonst aus mit dem, was in deutschen Restaurants und Cafés auf dem Tisch oder in der Tasse landet. Doch hören Sie selbst  .

 

In diesem Sinne grüße ich Sie, herzlich wie stets,

Ihr

Michael Hirz