NEWSLETTER 22.03.2024

Von unzuverlässigen Freunden, deutschem Tiefschlaf und dem großen Europäer Konrad Adenauer

 

 

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

es gibt großartige Begabungen, die aber eine tragische Kehrseite haben können. Die griechische Königstochter Kassandra etwa hatte die unglaubliche Fähigkeit, die Zukunft vorherzusehen. Aber ihr Pech war, dass das von ihr zurecht vorhergesagte Unheil niemand glauben mochte – bis es eintrat. Ein bisschen erinnert in diesen Tagen der frühere Außenminister und Vizekanzler Joschka Fischer an Kassandra, wenn er sich zu Russlands aggressivem Großmachtstreben und den Folgen für Europa äußert. Ich habe Joschka Fischer im Rahmen der lit.Cologne getroffen, wo wir gemeinsam mit dem Zeitgeschichtler Prof. Herfried Münkler eine Veranstaltung hatten.

Fischer wäre nicht Fischer, wenn ihn seine düstere Realitätsbeschreibung von einem atomar bedrohten, weitgehend wehrlosen Europa in den Fatalismus triebe. Als Reaktion fordert er die Wiedereinführung der Wehrpflicht („die Abschaffung war ein Fehler“) und die nukleare Aufrüstung der Europäer: „Wir müssen massiv aufrüsten, atomar und konventionell.“ Für die erforderlichen finanziellen Mittel dürfe es keine Schuldenbremse geben, Putin lasse sich „von robuster Verteidigungsfähigkeit abschrecken, aber nicht von einer Schuldenbremse.“ Dass Putins Russland sich mit der Ukraine oder gar nur eines Teils zufrieden geben könnte, hält er für eine naive Vorstellung. „Das ist der erste Revisionskieg, weitere werden folgen“, prophezeit Fischer. Putins Ziel sei „eine neue Ordnung in Europa“ mit einem dominanten Groß-Russland als beherrschender Macht.

Auf die Hilfe der USA und deren atomarem Schutzschirm sei kein Verlass mehr. Mit einer Wiederwahl Trumps gebe es den faktisch nicht mehr und auch auf die Demokraten Joe Bidens sei längerfristig nicht zu bauen. „Die Amerikaner hatten schon unter Obama ihr Interesse an Europa gegen eine Fokussierung auf den pazifischen Raum eingetauscht. Der allmähliche Abschied war nur freundlicher formuliert“, so Fischer. Spätestens mit der Wahl Trumps 2017 hätte Europa zügig eigenständige Verteidigungskapazitäten aufbauen müssen.

Doch statt zu handeln, statt eine nenneswerte europäische Verteidigung aufzubauen, zeige sich Europa uneinig – vor allem die Achse Paris-Berlin sei erodiert, obwohl ohne einen Schulterschluss der beiden größten EU-Staaten nichts ginge – „eine Katastrophe“.

Ein Großteil der Schuld an der Wehrlosigkeit Europas trage Deutschland. „Aus gutem Grund“ habe es nach dem Krieg eine Abneigung gegenüber allem Militärischen gegeben. Das könne sich der fragile „Zipfel an der eurasischen Landmasse“ aber nicht mehr leisten. Die Deutschen seien „sicherheitspolitisch im Tiefschlaf“ und sich der realen Gefahr überhaupt nicht bewußt. Der Ruf nach Diplomatie sei ohne „Hard Power“ sinnlos, wenn man nicht im Bereich der Hard Power auch über ein relevantes Drohpotenzial verfüge. Auch die fatale Neigung, öffentlich und aufgeregt über Sicherheit zu reden („Das gibt es nur bei uns“) sei kein Beitrag zur Transparenz, sondern „gefährliches, unverantwortliches  Geschwätz“. Damit liefere Deutschland sich und die Europäer zusätzlich aus.

Eine große Gefahr sieht Joschka Fischer in dem Versuch Wladimir Putins, Deutschland aus der Westbindung herauszulösen. Die Westbindung, die Konrad Adenauer gegen große Wiederstände erfolgreich durchgesetzt habe, sei ein historisch nicht hoch genug zu schätzendes Verdienst. Das setzten vor allem AfD, Linke und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) mit einer unterwürfigen Appeasement-Politik gegenüber Russland aufs Spiel. „Das wäre das Ende von Freiheit und Demokratie, das Ende Europas“, ist er überzeugt. Wer das nicht wahrhaben wolle, so Fischers Credo, sei entweder hoffnungslos-naiver Romantiker oder Opportunist, der aus der deutschen Friedenssehnsucht wahltaktisches Kapital schlagen will.

Joschka Fischer, mit dem ich in den letzten Jahren fünf mal gesprochen habe, ist ein bemerkenswert eigenständiger Kopf, der immer schon in kein Parteikorsett passte, inzwischen aber zum Elder Statesman gereift ist. Seine unbequeme Zeitanalyse fällt düster aus, aber sie überzeugt durch Klartext. Viele solcher Stimmen hat das Land nicht. Darum sollte sie gehört und ernst genommen werden.

Und wo bleibt das Positive, hätte Erich Kästner an dieser Stelle gefragt? Na, es ist Frühling, die dunklen Winterwochen haben wir hinter uns. Für viele (mich nicht!) Zeit, ihr Wohnmobil startklar zu machen. Doch auch da trübt bei Paaren der Umstand die Vorfreude, dass man mit einem schnarchenden Partner keine Ausweich-Couch hat. Über dieses Problem hat sich meine Kollegin Susannen Hengesbach Gedanken in ihrem Podcast gemacht (https://poetry-podcast.podigee.io/). Hören Sie doch mal rein. Es lohnt sich!

 

In diesem Sinne grüße ich Sie, herzlich wie stets,

Ihr

Michael Hirz