NEWSLETTER 6.09.2024
15 Jahre nach dem Einsturz des Stadtarchivs ist der Fall rechtlich abgeschlossen – ohne Urteil. Das bringt nur Verlierer hervor.
Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,
Sie kennen das Loch. Es hat sich im Gedächtnis vieler Kölner eingebrannt: die Vogelperspektive von der Einsturzstelle des Stadtarchivs am Waidmarkt. Das Unglück begann am 3. März 2009, 13:58 Uhr. Vorausgegangen waren gravierende Fehler beim Bau der U-Bahn, wie die Ermittlungen zeigen werden. In unmittelbarer Nähe sei eine 27 Meter tiefe Baugrube durch eine geborstene Schlitzwand mit Wasser und Sand vollgelaufen, heißt es später. Dem Archiv wurde auf diese Weise der Boden entzogen und es stürzte ein. Das Loch riss zwei Menschen in den Tod, eine Frau nahm sich später das Leben, im Loch verschwand Geschichte – unwiederbringliche Dokumente unserer 2.000 Jahre alten Stadt. Noch heute klafft es wie eine Wunde, die einfach nicht verheilen will. Die Trauer. Die Wut. Die Fassungslosigkeit. Ich spüre das alles heute noch wie damals.
Und nun kommt da vor wenigen Wochen, in der Hochphase der Sommerferien, folgende Meldung des Landgerichts Köln: Das Strafverfahren um den Archiveinsturz wird unter Auflagen vorläufig eingestellt – 15 Jahre nach dem Unglück. In der Begründung folgt ein Satz, den ich zwei Mal lesen musste. „Das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung ist gesunken.“ Das versteht manch‘ Kölner so, als wollten die Richter an der Luxemburger Straße die Geschichtsbücher umschreiben. Wie soll ein Interesse an diesem einschneidenden Ereignis derart gesunken sein?
Es ist vermutlich der Schlusspunkt eines juristischen Verfahrens, das mindestens als unglücklich bezeichnet werden darf. Ohne dem Gericht etwas Böses unterstellen zu wollen, so ist offensichtlich bei vielen Kölnern der Eindruck entstanden, dass dieser Prozess gar kein richtiger gewesen sei. Das liegt unter anderem an den umfangreichen Verfahrensregeln, der langen Prozessdauer, an einer fehlerhaften Urteilsbegründung und eben dieser fragwürdigen Wortwahl bei der Einstellung des Verfahrens, die dem allgemeinen Bauchgefühl widersprechen mag.
Dennoch mahne ich auch zu einem Perspektivwechsel: Neben den vielen Opfern des Einsturzes lohnt sich auch ein Gedanke über die vier Angeklagten. Sie werden wahrscheinlich nie ein Urteil erhalten. Sollten sie unschuldig sein, wären auch sie Verlierer dieses langjährigen Prozesses. Der schwerste Vorwurf in den Anklagen lautete: fahrlässige Tötung in zwei Fällen. Bauleitern und einer Aufsichtsperson wurde unterstellt, sie hätten ihre Sorgfaltspflicht verletzt. Auch ein Baggerfahrer und ein Polier saßen auf der Anklagebank. Die Beweisaufnahme ergab: Zwischenfälle an der Baustelle am Waidmarkt häuften sich. Schon vier Jahre vor der Katastrophe kam es zu ersten Fehlern, die letztendlich im Einsturz mündeten.
Viele Jahre nachdem die Anklage verlesen wurde, beginnt die erste Phase, die den Glauben an ein geordnetes Gerichtsverfahren erschüttern kann. Das Verfahren dauert schon so lange, dass die absolute Verjährung droht. Und: gegen zwei Anklagte werden keine Urteile fallen. 2018 wird einer von ihnen so krank, dass gegen ihn nicht mehr verhandelt werden kann. Und der andere? Er stirbt. Auch seine Akte wird geschlossen.
Kurz vor Ablauf der Frist fielen doch noch Urteile. Zwei Mal gab es Bewährungsstrafen wegen zweifacher fahrlässiger Tötung für einen Oberbauleiter und eine Aufsichtsperson der Verkehrsbetriebe. Für zwei Bauleiter lautete das Urteil: Freispruch. Stellen Sie sich das mal vor: nach fast zehn Jahren auf der Anklagebank, mit all den Vorwürfen und der öffentlichen Berichterstattung werden Sie freigesprochen! Wie muss man sich da fühlen?
Der rechtliche Teil dieses Unglücks könnte an dieser Stelle enden. Doch es wird noch dramatischer. Auch das Landgericht ist ein Verlierer – möglicherweise selbst verschuldet. Der Bundesgerichtshof hebt im Herbst 2021 alle vier Urteile auf. Sind die Freigesprochenen also doch schuldig und die Verurteilten unschuldig? Der Fall wird vom BGH, fast zwölf Jahre nach dem Einsturz, an das Landgericht Köln zurückverwiesen. Die bisherigen Ermittlungsergebnisse seien nicht adäquat in die Urteile eingeflossen, heißt es aus Karlsruhe. Alles soll noch einmal aufgerollt werden.
Soweit kommt es nicht. 15 Jahre nach dem Einsturz des Stadtarchivs stellte das Landgericht Köln den Prozess gegen die vier Anklagten nun ein. Die lange Verfahrensdauer hat ihren Teil zu dieser Entscheidung beigetragen. 15 Jahre Verfahren, ohne Urteil. Quasi „lebenslang“ auf der Anklagebank. Eine faktische Bestrafung, ohne bestraft zu werden.
Das Gericht sagt zur Begründung, abgesehen vom angeblich gesunkenen öffentlichen Interesse, das Unglück selbst sei durch das Strafverfahren „hinreichend aufgeklärt“ worden. Dem widerspricht die Initiative ‚Archivkomplex‘, die eine Petition gestartet hat und die Entscheidung als „Schlag ins Gesicht der Opfer“ bezeichnet. Die Petition richtet sich an den Präsidenten des Landgerichts, der das Verfahren wieder aufnehmen soll. Günter Otten von „Archivkomplex“ sagte mir, die Chancen seien wohl gering. Aber es gehe ihm auch nicht um Strafe, sondern um Aufklärung, angesichts dieses entsetzlichen Unglücks und seiner Folgen. Otten bezweifelt auch, dass die wirklich Verantwortlichen je angeklagt wurden.
Die Einstellung des Verfahrens kann ich nachvollziehen. Ein Gerichtsverfahren darf nicht 15 Jahre dauern und kann, gut abgewogen, vorläufig beendet werden. Die Belastung des Verfahrens muss für die Angeklagten berücksichtigt werden. Auf der anderen Seite verstehe ich dem Wunsch nach weiterer Aufklärung – auch juristisch. HIER können Sie die Petition von „Archivkomplex“ unterschreiben.
Allen Opfern, Hinterbliebenen und Helfern, die Sache zu bewältigen und aufzuklären, wünsche ich weiterhin viel Kraft.
Es grüßt Sie herzlich
Ihr
David Rühl