Newsletter 18. Dezember 2020
Newsletter vom 18.12.2020
Dem Verlust steht als Gewinn die Freiheit des Denkens und das Privileg einer eigenen Meinung gegenüber
Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,
aus der Zoologie kennen wir die Metamorphose, also die wundersame Verwandlung etwa der Raupe zum Schmetterling oder der Kaulquappe zum Frosch. Ähnliche Phänomene gibt es allerdings auch in der Entwicklung von Menschen – zum Beispiel bei der Gattung der Politiker. In der Regel bewirkt der Verlust von Ämtern auch einen Verlust der Scheuklappen, die das Blickfeld zuvor deutlich eingeschränkt haben. Dem Verlust steht als Gewinn die Freiheit des Denkens und das Privileg einer eigenen Meinung gegenüber.
Einen solchen Prozess der ideologischen Selbstbefreiung hat ganz offensichtlich auch der frühere Vizekanzler, Außenminister und SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hinter sich. In dieser Woche habe ich mit ihm für die renommierte Bonner Akademie BAPP ein Podcast-Gespräch über das komplizierter gewordene Verhältnis Deutschlands und Europas zu den Vereinigten Staaten geführt. Gabriel ist Vorsitzender der einflussreichen Atlantik-Brücke, einem Netzwerk von rund 500 führenden Persönlichkeiten überwiegend aus der Wirtschaft (zahlreiche Dax-Vorstände), aber auch aus Politik (u.a. Angela Merkel), Wissenschaft und Medien.
In unserem Gespräch warnt Gabriel vor einem zu holzschnittartigen Blick auf die USA und vor zu großen Erwartungen an einen Präsidenten Joe Biden. Auch unter ihm werde es eine zunehmende Hinwendung zum Pazifischen Raum geben, weil dort vor allem die Interessen der Vereinigten Staaten lägen. Vor allem, und da werden seine Parteifreundinnen und -freunde in der SPD zusammenzucken, mahnt er größere verteidigungspolitische Anstrengungen Deutschlands an. Nicht nur der US-amerikanische Präsident, auch unsere europäischen Verbündeten erwarteten zunehmend ein stärkeres finanzielles und militärisches Engagement von Deutschland. Die alte Rolle als globale Ordnungsmacht werden die USA nicht mehr ausfüllen, hier seien die Europäer und die Deutschen gefordert. Dennoch bleibt für Sigmar Gabriel die transatlantische Wertegemeinschaft ohne Alternative. Gäbe es sie nicht, wäre Europas Schicksal als weltpolitische Randfigur programmiert – mit dramatischen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen. Doch hören Sie das Gespräch selbst und klicken Sie hier.
Denkt man an Werte und Verantwortung ist man dieser Tage, zumal in Köln, schnell bei der Katholischen Kirche. Auch als Nicht-Katholik kann man sich über das Drama, das sich derzeit um den Kölner Erzbischof abspielt, nicht erfreut sein. Eine Institution, auf die viele Menschen gerade in krisenhaften Zeiten wie diesen ihre Hoffnung setzen, ist hoffnungslos mit sich, ihren Vergehen und Versäumnissen beschäftigt. Wie Peter Pauls vor geraumer Zeit in unserem Newsletter schon angemerkt hat, haben die beiden großen Kirchen noch keine Antwort auf die Pandemie gefunden, sind sie gegenwärtig keine Quellen von Kraft und Trost mehr. Ausgerechnet jetzt fällt Kardinal Woelki als regionales Zentralgestirn für seine Kirche aus, für die vielen dort Engagierten, für die Gläubigen, die Verzweifelten und Suchenden, ja, für die Gesellschaft insgesamt. Erstmals habe ich das Gefühl, dass eine solche Institution mit Ewigkeitsanspruch auch vergänglich sein könnte.
An dieser Stelle muss jetzt mal an einen Satz von Erich Kästner erinnert werden, der vor exakt 90 Jahren fragte: Und wo bleibt das Positive? Das gibt es natürlich auch. Zum Beispiel ist in wenigen Tagen in der Deutzer Messehalle 4 ein Impfzentrum aus dem Boden gestampft worden. Das haben Gesundheitsamt, Feuerwehr, Koelnmesse und Kassenärztliche Vereinigung in einer gemeinsamen Kraftanstrengung hinbekommen. Fehlt nur noch ein zugelassener Impfstoff, aber der scheint auch in Sicht. Hoffnung gibt es plötzlich auch wieder bei den Brexit-Verhandlungen. In London, Berlin und Brüssel macht sich vorsichtiger Optimismus breit. Die Unterhändler, so st zu hören, hätten sich auf ein einvernehmliches Schiedsverfahren für Streitfälle geeinigt und auch bei der strittigen Fischfangfrage gebe es Fortschritte. Das sind gute Nachrichten auch für die Kölner Wirtschaft – und damit für uns alle.
In diesem Sinne grüßt Sie sehr herzlich
Ihr
Michael Hirz
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