NEWSLETTER 17.01.2025

Was ein Pistazienfeld in Sizilien mit der Chemischen Fabrik in Kalk verbindet und wie eine Familie Kölner Industriegeschichte spiegelt   

 

 

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

das Foto von den endgültig geschlossenen Werkstoren der Chemischen Fabrik in Köln-Kalk (CFK) hat Salvatore Saporito schnell zur Hand, obwohl es mehr als 30 Jahre alt ist. Es zeigt ihn als schlaksigen 19-jährigen neben seinem Vater Giuseppe, damals 47, an einem Wendepunkt nicht allein im Leben von Vater und Sohn. „Die Chemische ist dicht!“, steht unter dem Bild auf einer Zeitungsseite. Der größte im Viertel verbliebene industrielle Arbeitgeber stellte seinen Betrieb ein. Und in Kalk ging die Angst vor der Zukunft um.

1969 verließ Vater Giuseppe seine Pistazienfelder im Örtchen Bronte am Fuß des Vulkans Ätna. Die Situation muss ähnlich wie ein Vierteljahrhundert später in Köln gewesen sein. Ernähren die Pistazien mich und eine Familie? wird der junge Mann sich gefragt haben. Die Antwort führte ihn die Fremde. Wie hunderte anderer Gastarbeiter auch, verdiente er dann bei der „Chemischen“ in Köln-Kalk sein Geld.

Am 18. September 1970 – das Datum ist Familiengeschichte – lernte er Rosemarie kennen, eine junge Frau aus Köln. Am 1. August 1973 heiratete das Paar. Der Ehemann wurde jedoch erst zum akzeptierten Schwiegersohn, nachdem sein Sohn Salvatore im April 1975 zur Welt kam und als Enkel das Herz des Schwiegervaters erweichte. Die junge Familie war nach Kalk gezogen, der Verdienst des Chemiefacharbeiters gut. Doch nach der Werksschließung stellte sich erneut die Frage: Wovon leben? Immerhin hatte Mutter Rosemarie Arbeit in einer Bäckerei.

Warum schreibe ich über etwas, das mehr als 30 Jahre zurückliegt? Weil wir heute wieder vor auffallenden Veränderungen stehen, weil sich große Strukturen verschieben. Daher fiel mir die Familie Saporito ein, die Industriegeschichte spiegelt, denn die „Chemische“ markiert den letzten augenfälligen Wandel in Köln, den Abschied von einer Kultur, in der Arbeiter in Fabriken arbeiteten, deren Grundzüge an die hundert Jahre alt waren. Sie lebten in der Nähe dieser freundlich „historisch“ genannten Hallen.

Unternehmen wie die Motorenwerke Deutz zogen weg, die CFK gab auf und andere Alteingesessene wurden von größeren Firmen übernommen und verschwanden. Das urtümlich anmutende Industriegebiet, durch das ich in den frühen 70er Jahren als Student mit der S-Bahn fuhr, verschwand zusehends.

Apropos Student: Sohn Salvatore arbeitete ebenfalls in der Chemischen. Ihm war die Nachtschicht am liebsten. So konnte er vormittags nach getaner Arbeit seine Vorlesungen an der Uni Köln besuchen, wo er Betriebswirtschaft studierte und später sein Diplom machte. Heute ist er europaweit als Vertriebsleiter für IT- und Cyber-Sicherheit tätig.

Doch trotz der eigenen Perspektive war das Aus auch für den Sohn ein Schock, erinnert er sich. Kalk war wie gelähmt, der Arbeitgeber Geschichte, der Vater arbeitslos. Wie der Rest der Belegschaft auch. Was sollte werden? Stirbt nun die Kalker Hauptstraße oder die Identität des eigenen Viertels, das wegen der italienischen Arbeitskräfte „Klein-Palermo“ genannt wurde? Neben den existentiellen Sorgen standen solche Fragen im Raum.

Wie Wandel heute aussieht? Am Beispiel Ford lässt sich das aufzeigen. Der Autobauer, der 1930 nach Köln kam, hatte in seinen Blütejahren fast 20.000 Beschäftigte. Nun reagiert er auf das von der Europäischen Union (EU) für 2025 verfügte Aus für Verbrenner-Motoren und will am Rhein nur noch Elektro-Autos produzieren. Dafür benötigt Ford weniger Fläche und weniger Mitarbeiter, denn Elektroautos sind einfacher konstruiert als Verbrenner und dadurch weniger personalintensiv.

Laut Betriebsrat hat Ford heute nur noch 11.500 Mitarbeiter und will perspektivisch weitere 2.900 Stellen abbauen. Das heißt: Viele tausend Menschen leben in Unruhe. Und wenn es schlecht kommt, zieht der Autobauer sich ganz aus Europa zurück. Aktuell flirten Politiker mit dem Aus vom Verbrenner-Aus und legen damit Unsicherheit über die Pläne von Ford. Die Firma hat den Plänen der Politik vertraut und ganz auf Elektroantrieb gesetzt.  

Ford wieder im Kleinen: Als die „Chemische“ schloss, fuhr Student Salvatore einen gebrauchten Ford Fiesta. Er war fest im Viertel verwurzelt – „Langweilig wird es in Kalk nicht“ – und bereits im zarten Alter von acht Jahren Mitglied des Fußballvereins SC Borussia Kalk. „Da lernte ich fürs Leben“, erinnert er sich: im Team spielen, Konflikte lösen, auf andere zugehen. Heute ist er mit Herzblut 1. Vorsitzender des Vereins und zitiert gerne, was sein Vater ihm an Erfahrung für die Jugendarbeit mitgegeben hat. Zum Beispiel: Nie ein Kind fortschicken, auch wenn es sich auf den Platz gemogelt hat. Vater Giuseppe Saporito fand übrigens eine neue Arbeitsstelle bei Lindgens Druckfarben und blieb dort bis zur Rente.

Kalk ist heute ein neuer Stadtteil geworden mit dem Einkaufszentrum Kalk-Arcaden, dem Wissenschaftszentrum der technischen Hochschule (TH), Kölner Polizeipräsidium, ADAC, Malteser Zentrale und vielen neuen Wohnblöcken. So weit hat es geklappt mit dem Wandel. Es sind keine Brachen geblieben.

Und die Pistazienfelder am Ätna? Regelmäßig ist die ganze Familie zur Ernte auf Sizilien. Pistazien sind wie Mandeln und Pfirsiche Steinfrüchte, allerdings mit essbaren Kernen, die überaus schmackhaft und sehr gesund sind. Als Superfood taugen sie für Snacks ebenso wie für herzhafte Gerichte und passen sich dem Verwendungszweck an. Welche Konstante gibt es im Leben der Großfamilie? „Es gibt nicht viele, die ein Pistazienfeld am Ätna haben,“ lacht Salvatore Saporito, dem ich für seine Offenheit danke, mit der er über sich und seine Familie erzählt hat.

Es ist ein Leben zwischen den Pistazienfeldern Siziliens und dem deutschesten aller Flüsse, dem Rhein, eine der vielen Geschichten von Wandel, Anpassung und Zukunftsgestaltung. In ihrer Gesamtheit zeichnen sie ein großes Bild und vielleicht zeigen sie auch Parallelen auf zu gesellschaftlichen Entwicklungen. Doch auch der Einzelfall ist berührend. Daher habe ich Ihnen zum Wochenende davon erzählt.

Herzliche Grüße

Ihr

Peter Pauls