NEWSLETTER 23.5.2025

Wo bleibt die Ordnung? Was der verwahrloste Zustand von Köln über unser Demokratieverständnis verrät

 

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

der Neumarkt ist nicht nur ein Ort, er ist eine Frage. Eine unbequeme Frage an uns alle: Wie steht es um unser Gemeinwesen – wenn wir im Zentrum einer Großstadt nicht einmal mehr einen Platz gemeinsam organisieren können? Denn was sich hier zeigt, geht weit über Müll, Drogen oder Ordnungsrecht hinaus. Es geht um das, was eine Demokratie eigentlich leisten soll: das friedliche Zusammenleben unterschiedlichster Interessen auf einem gemeinsamen Raum.

Zwischen Spritzen, Scherben und Stillstand wird aus einem Platz ein Spiegel – für das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit. Wer den Platz betritt, erlebt Ohnmacht – auf allen Seiten: bei den suchtkranken Menschen, die hier Zuflucht suchen, bei Passanten, die ihn meiden, bei Anwohnern, die nicht mehr wissen, wohin mit ihrer Sorge. Eine Bekannte sagte mir erst kürzlich wieder, sie gehe nicht mehr in die Nähe des Neumarkts –  vor allem nicht am Abend. Sie sei es leid, ständig angesprochen, teilweise verfolgt und sogar körperlich angegangen zu werden. Der Neumarkt als No-Go Area? Diese leisen Rückzüge sind auch politische Momente.

Der Kölner Psychologe Jens Lönneker spricht mir gegenüber im Gespräch in diesem Zusammenhang vom „Verlust an Selbstwirksamkeit im öffentlichen Raum“. Das führe dazu, dass sich die Menschen entweder ins Private zurückziehen – oder politischen Rändern zuneigen.Die Wut auf Verwaltung und öffentliche Stellen wächst.“, stellt Lönneker fest. „Wenn Bürger das Gefühl haben, dass ihre Stadt nicht mehr funktioniert, entsteht ein gefährliches Legitimationsproblem für die Demokratie.“

Dabei ist die Kölner Stadtordnung in ihrer Klarheit kaum zu überbieten. In § 3 wird das Verunreinigen öffentlicher Anlagen ausdrücklich untersagt. Das betrifft das Wegwerfen von Müll ebenso wie das Nächtigen auf Bänken oder das Lagern auf Gehwegen – genau jene Zustände, die rund um den Neumarkt zum Alltag gehören. In § 11 heißt es weiter, dass belästigendes Verhalten gegenüber Dritten, etwa durch aggressives Betteln oder Störungen der öffentlichen Ordnung, ebenfalls verboten ist. Die Regeln existieren also. Doch sie bleiben in vielen Fällen folgenlos. Nicht, weil sie unklar wären – sondern weil ihre Durchsetzung scheitert. An Ressourcen. An politischer Unentschlossenheit.

Denn in der Kölner Politik gilt Beteiligung als oberstes Prinzip. Das klingt zunächst sympathisch. Doch am Neumarkt zeigt sich die Kehrseite: Mit Worthülsen, langen Abstimmungsverfahren und lähmenden Zuständigkeitsfragen verliert die Stadt ihre Handlungsstärke – und mit ihr das Vertrauen der Bürger in ihre Ordnung.

„Demokratie braucht eine Legitimationsbasis, die breite Akzeptanz findet.“, so Lönneker weiter. „Wenn Menschen das Gefühl haben, dass der Zustand am Neumarkt nicht tragbar ist, und trotzdem nichts passiert – dann verlieren sie das Vertrauen in unsere demokratische Ordnung.“

Demokratie muss sich gerade dann beweisen, wenn es ungemütlich wird. Wenn Regeln durchgesetzt, Zuständigkeiten geklärt und Prioritäten gesetzt werden müssen. Sie darf auch nicht zur Bühne für Symbolpolitik werden. Vielleicht liegt genau hier der blinde Fleck der bisherigen Debatte: Wir reden über Armut, Drogen und Ordnungspolitik. Aber wir reden zu wenig darüber, was der öffentliche Raum in einer Demokratie bedeutet. Das ist bereits in Artikel 2 Grundgesetz geregelt: „Jeder hat das Recht auf die freien Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“.  Genau das ist aber der Fall bei den Zuständen am Neumarkt. Derzeit wird aber politisch diskutiert, ob ohne Rücksicht auf die Rechte der Mehrheit eine kleine Gruppe den Neumarkt als ihr „Wohnzimmer“ in Anspruch nehmen darf.

In einer aktuellen Studie seines Instituts zur gesellschaftlichen Stimmungslage – Titel: Zuversicht – zeigt Jens Lönneker auch auf, „dass 78 Prozent der Befragten der Meinung sind, dass wir das Land vor die Wand fahren, wenn wir so weitermachen.  Erst wenn Menschen erleben, dass ihre Stimme zählt und ihr Handeln etwas bewegt, wirkt das System glaubwürdig – vom Rathaus bis zum Bundestag.“

Was wir jetzt brauchen, ist also nicht weniger, sondern mehr Demokratie. Aber eine, die handelt. Eine, die Konflikte nicht scheut. Eine, die Verantwortung übernimmt – für alle, nicht nur für wenige.

Aus diesem Anlass veranstaltet der Kölner Presseclub – in Kooperation mit der Kreissparkasse Köln und weiteren Partnern  – eine Podiumsdiskussion: „Verwahrlosung der Innenstädte – wie retten wir den Neumarkt?“ Am 24. Juni diskutieren ab 19:00 Uhr Vertreter der Stadt, der Polizei, der Wissenschaft, der sozialen Praxis und der Nachbarschaft. Nicht über Schuld. Sondern über Lösungen. Einzelheiten erfahren Sie hier. Ich freue mich schon auf Ihre Meinung, die ich gerne in die Podiumsdiskussion miteinfließen lasse.

Um mir ein eigenes Bild zu machen, habe ich einen Rundgang um das Problemviertel am Neumarkt gemeinsam mit dem ehemaligen Obdachlosen und drogenabhängigen Markus gemacht: Dealer, Substitutionsstelle, Drogen-Konsumraum, Josef-Haubrich-Hof. Im Eingangsbereich eines Sanitätshauses, so berichtete mir der Besitzer, campieren immer noch jede Nacht Menschen und konsumieren öffentlich Drogen. Auf dem Weg trafen wir auch Mitarbeitende der AWB, der KVB, der Polizei, des Ordnungsamts, die sogenannten Kümmerer. Sie dokumentierten Orte, an denen Drogenreste, Unrat und menschliche Notdurft frisch sichtbar waren. Ich kann jedem nur empfehlen, sich selbst ein Bild zu machen. Markus steht gern zur Verfügung und finanziert sein neues Leben mit seinen Führungen. Zur Buchung geht es hier.

Ein letztes Wort: Vielleicht ist es an der Zeit, den Begriff „Demokratie“ zurückzuholen – raus aus den Sonntagsreden, hinein in den Alltag der Menschen. Demokratie ist nicht das, was auf Plakaten steht. Sondern auch das, was wir im Alltag erleben. Der Neumarkt ist kein Einzelfall. Aber er ist ein Prüfstein. Wenn wir ihn aufgeben, geben wir mehr auf als nur einen Platz. Wer will, dass die Stadt nicht weiter auseinanderdriftet, muss sich auch um ihre öffentliche Räume kümmern. Und den Mut haben, auch über das zu sprechen, was weh tut. Denn genau dort – mitten im Widerspruch – beginnt die Demokratie, die wir brauchen. Wie sehen Sie das?

 

Herzliche Grüße Ihre

Ihre

Claudia Hessel