Newsletter 17. Dezember 2021

Newsletter vom 17.12.2021

Kölns Zukunft liegt in seiner Vergangenheit – Warum wir die Historische Mitte brauchen

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

wie geht es weiter mit der Historischen Mitte in Köln? Hinter dem unspektakulären Begriff verbergen sich Projekte, die für die Zukunft Kölns stehen. Zum einen der Roncalliplatz. Steht man auf seiner Mitte und es ist nicht gerade Weihnachtsmarkt, erkennt man deutlich, dass dieser großartigste Platz Kölns – dazu macht ihn der benachbarte Dom – ausschließlich von Sanierungs- und Neubauprojekten gesäumt ist. Römisch-Germanisches Museum, Verwaltungsgebäude, darunter das Kurienhaus der Hohen Domkirche, das Laurenz Carré und das unter Dauersanierung stehende Dom Hotel. Die Historische Mitte steht für den Versuch, in dieser Vielzahl an Interessen von Stadt Köln, Hoher Domkirche und Investoren Projekte  gemeinsam zu entwickeln. Das senkt Kosten, vereinfacht Verfahren und gestattet qualitätsvolle Planung.

Umso aufmerksamer wurde ich, als ich vor wenigen Tagen in der „Kölnischen Rundschau“ las >Politik stellt die Mitte in Frage<. Etwas beruhigt hat mich einen Tag später Niklas Kienitz. Der CDU-Fraktionsgeschäftsführer stellte ohne Umschweife klar: „Das ist nicht der Einstieg zum Ausstieg aus der Historischen Mitte.“ Eine klare Ansage. Gleichwohl hat der Volksmund für solche Situationen eine Weisheit parat: „Wo Rauch ist, ist auch Feuer.“ Ob das auch hier zutrifft?

Ich habe daher mit dem Architekten Kaspar Kraemer, einem der vehementesten Unterstützer aus der Bürgergesellschaft, den Plan noch einmal durchdekliniert. Der Roncalliplatz verbindet antikes und gegenwärtiges Köln, indem dort künftig auch das Kölner Stadtmuseum angesiedelt wird. „Eine Stärkung für den Standort„, schwärmt Kraemer. Er spricht von einem Projekt, das Köln zum Leuchten bringt – weil Stadt und Domkirche gemeinsam planen und hier die „Via Culturalis“ ihren Anfang nimmt, ein fast 800 Meter langer Weg zwischen dem Dom im Norden und der romanischen Basilika St. Maria im Kapitol im Süden.

Aufgereiht wie an einer Perlenschnur findet man hier die Bauten, die Kölns Geschichte markieren: Museum Ludwig, Museum für angewandte Kunst, Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud sowie der Erweiterungsbau bilden zusammen mit der Philharmonie und der archäologischen Zone jenen dichten Kulturraum, der herausgearbeitet und hergerichtet werden muss, um die Kölner Innenstadt endlich wieder zum internationalen Anziehungspunkt zu machen. Die historische Perlenschnur muss poliert werden, was angesichts der anstehenden Bauarbeiten so oder so auf baulogistische Meisterleistungen hinauslaufen wird. Mich würde interessieren, wie viele hundert Baufahrzeuge sich durch die engen Straßen werden quälen müssen, die noch römischen Ursprungs sind. „Da kommt viel Arbeit. Meilensteine müssen formuliert und eine Art Masterplan aufgestellt werden“, sagt Kraemer.

All das ist für Mitglieder und Freunde des Kölner Presseclubs keine Überraschung. Im Oktober 2019 haben Hildegard Stausberg und ich mit Kölns OB Henriette Reker, dem Domprobst Bachner und Kaspar Kraemer darüber diskutiert. Die Sinnhaftigkeit des Projekts wurde – nach meiner Erinnerung – nie in Zweifel gezogen, und bereits damals fiel dem Architekten Kraemer die Rolle des Mutmachers zu. „Hätte man im Mittelalter die heutige Verzagtheit gehabt, wäre der Dom nie entstanden“, sagt er und erinnert, dass 2022 die 700-Jahr-Weihe des Ostchores gefeiert wird, wo unterer anderem das Grab des 1261 verstorbenen Erzbischofs Konrad von Hochstaden liegt.

Um Roncalliplatz und Via Culturalis geht es im Grunde auch im Prachtbuch „Kölngold“ des Verlegers Michael Wienand und seines Hauptautors Matthias Hamann, dem Leiter des Kölner Museumsdienstes. Es zog nach seinem Erscheinen wie eine besonders schöne Rakete über den Abendhimmel, wurde bestaunt und gewürdigt. Der Kölner Stadt-Anzeiger hat in einer eigenen Serie über besondere Projekte die Via Culturalis ausführlich dargestellt. Und nun? Muss man nach Düsseldorf fahren, um zu erleben, wie eine Stadt Zukunft plant?

Fast beschwörend sagt Kaspar Kraemer, man dürfe die Projekte nicht kleinreden, man dürfe sich freuen auf das, was kommt, wenn denn die vorliegenden Planungen, die aus einem Architektenwettbewerb hervorgegangen sind, umgesetzt werden. Wollen Sie sich weiter inspirieren lassen, gehen Sie auf diesen Link (casestudy_viaculturalis – Visualisierung Architektur (hh-vision.de). Die Firma HHVision, die auch in Köln vertreten ist, hat visuell in die Zukunft geblickt. Der Text von Michael Hamann dazu stellt die Pläne in einen Rahmen. HHVisons und der Wienand Verlag haben uns freundlicherweise auch die Illustration für diesen Newsletter zur Verfügung gestellt.

Ich wünsche Ihnen harmonische Vorweihnachts- und Festtage, trotz aller Pandemie-Schatten, die über uns liegen.

Herzliche Grüße

Ihr

Peter Pauls

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Newsletter 10. Dezember 2021

Newsletter vom 10.12.2021

Rheinenergie mit neuem Chef – Das Impfen hat ein Nachfrage-Problem

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

natürlich darf auch Politik sich irren, schließlich ist Irren menschlich und Politiker sind – selbst wenn Querdenker und andere Sonderlinge ihnen das absprechen mögen – eben auch nur Menschen. Doch interessant ist das Urteil von Jürgen Zastrow zur Corona-Situation, die er in einem Punkt komplett anders sieht als die Politik: „Wir haben definitiv kein Angebots-Problem. Wir haben ein Nachfrage-Problem. Nicht der Impfstoff ist knapp, sondern die Nachfrage danach ist eingeschlafen.“ Nun ist Jürgen Zastrow nicht irgendwer. Der promovierte HNO-Facharzt ist Chef des Impfzentrums Köln. Er hat also nicht den abstrakten Blick aus den luftigen Höhen der politischen Kommandozentralen, sondern den eines Arztes, der vor Ort und sehr konkret mit der Seuche ringt.

Im Gespräch macht er deutlich, dass die Impfangebote hoch sind. Man solle, so Jürgen Zastrow, also nicht zu viel Energie in eine Verbesserung der Angebote investieren, sondern man müsse dringend die Nachfrage stimulieren. Noch sei ein knappes Viertel der Bevölkerung nicht geimpft – deutlich zu viel, um die Pandemie wirkungsvoll einzubremsen. Dabei handele es sich bei den Ungeimpften nur zum kleineren Teil, nach seiner Schätzung etwa fünf Prozent, um hartleibige Corona-Leugner, Verschwörungstheoretiker und strenggläubige Homöopathie-Apostel. Denen sei ohnehin nicht zu helfen.

Entsprechend fordert er massive Kampagnen und Anreize, um die Bereitschaft zu stimulieren, sich selbst und andere zu schützen. Nicht ohne einen gewissen Stolz verweist er darauf, dass allein in den Kölner Arztpraxen in der vergangenen Woche 65.000 Personen gegen Corona geimpft worden seien, also fast 10.000 pro Tag: „Damit sind wir eigentlich ganz zufrieden.“ Mit der Anmietung von zusätzlichen Räumen für das Gesundheitsamt am Neumarkt, der Öffnung für impfwillige Fußgänger und Radfahrer an der Lanxess-Arena und den mobilen Impfteams forciert jetzt auch die Stadt das Tempo bei der Seuchenbekämpfung. Rund 6.000 Impfungen pro Tag lautet das ambitionierte Ziel der Stadt-Spitze. Das klingt nach Energie.

Apropos Energie – wer wird neuer Chef der Rheinenergie? Ende August 2022 scheidet Dieter Steinkamp altersbedingt aus dem Amt. 2007 kam der Manager nach Köln, 2009 rückte er an die Spitze des Unternehmens, das unter seiner Führung ein ganz Großer unter den regionalen Dienstleistern wurde. In 2020 erwirtschaftete die Rheinenergie 170 Millionen Euro Gewinn (bei 2,47 Milliarden Umsatz), ist damit Schwergewicht im Konzern der Stadtwerke Köln, trägt erheblich zum Haushalt der Stadt Köln bei und mindert das Defizit der Kölner Verkehrs-Betriebe (KVB). Steinkamp verbindet das sachliche Denken des Managers mit der Kreativität des Gestalters von Energie-Netzwerken. Sein Name steht für eine Vielzahl an Beteiligungen und nicht zuletzt die „Rheinland-Kooperation“, in der Rheinenergie und die Eon-Tochter Westenergie ihre regionalen Beteiligungen bündeln.

Andreas Feicht heißt dem Vernehmen nach sein Nachfolger. Der 50-jährige hat einen Namen. Doch als beamteter Energiestaatssekretär im Ministerium des Peter Altmaier, der nun sein Amt an Robert Habeck (Grüne) übergab, wäre er als CDU-Mitglied unter der neuen Regierung nicht glücklich geworden. Und für einen nachgeordneten Abteilungsleiter-Posten scheint der gebürtige Bayer zu umtriebig und aktiv. Feicht kennt die weitere Region Kölns – er war bei den Wuppertaler Stadtwerken viele Jahre für die Energieversorgung verantwortlich und gleichzeitig Geschäftsführer der Stadtwerke. Ferner hat er Verbandserfahrung und verfügt über ein politisches Netzwerk. Seine Papierform ist ausgezeichnet.

Anders als sein Vorgänger kennt er noch nicht den Beipackzettel für diese Stadt, ihre „Wirkungen und Nebenwirkungen“, ihre Türen und Falltüren. Wie man einem Manager den Ausstieg einfach macht, zeigte die Stadt Köln, als sie ihrem eigenen Unternehmen Rheinenergie zum Jahreswechsel den Vertrag zu kommunaler Energieversorgung kündigte. Auf die Mischung aus Unbedarftheit, Naivität mit einem schlecht dosierten Quäntchen an Gemeinheit wird er sich einstellen müssen.

In diesem Sinne grüßt Sie, herzlich wie stets,

Ihr

Michael Hirz

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Newsletter 3. Dezember 2021

Newsletter vom 03.12.2021

Ohrfeige für den WDR von der Finanz-Aufsicht – Wie gespalten ist die Kölner SPD? – Arm und Reich sitzen im Corona-Boot

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

was die Sanierung des Opernhauses für die Stadt Köln ist, wird das Filmhaus für den WDR sein: eine Dauerbaustelle, die geeignet ist, den Verantwortlichen den Schlaf zu rauben. Wenn Sie nördlich auf der Nord-Süd-Fahrt unterwegs sind, sehen Sie es, nachdem Sie Oper und WDR-Arkaden passiert haben, auf der linken Seite, gleich neben dem WDR-Archivhaus. Die KEF, die „Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten“, hat sich im Entwurf ihres 23. Berichts erneut dieser Grundsanierung angenommen (die KEF verteilt die Rundfunkgebühren an ARD und ZDF).

Von ursprünglichen €80 Millionen haben sich die prognostizierten Baukosten für das Filmhaus über die Jahre auf rund €240 Millionen verdreifacht. Das hatte Folgen für die Finanzierung. Der widmet sich die KEF nun. Sie fächert ein schwer übersehbares Konstrukt aus Rückstellungen, umgewidmeten Rücklagen, Darlehensplänen bis hin zur späten Anmeldung des Projekts als Großinvestition bei der KEF auf. Zu Beginn seiner Planung hatte der WDR diesen Schritt noch nicht vorgesehen.

In seiner Entschiedenheit kommt das KEF-Urteil zu diesem Kurs einer Ohrfeige für den öffentlich-rechtlichen WDR gleich. „Erhebliche Transparenzdefizite“ habe das Anmeldeverfahren gehabt, es sei insgesamt regelwidrig und nicht mit internen Regeln vereinbar gewesen. Zweifel der KEF an der Wirtschaftlichkeit der Grundsanierung bestünden weiter. Daher hatte die Kommission bereits die Auszahlung von €69,1 Millionen gesperrt. Dabei bleibt es vorerst: Die Kommission könne nur Kosten anerkennen, die unter Einhaltung des Wirtschaftlichkeitsgebotes notwendig seien. Hier ist, sehr zurückhaltend, ein Verschwendungsverdacht formuliert worden.

Indes merkt die Finanzaufsicht an, dass der WDR aktuell an der Aufklärung unklarer Sachverhalte mitwirke, um nachträglich die notwendige Transparenz herzustellen. Entschlüsselt man die Wortwahl, erkennt die KEF die Arbeit der WDR-Verwaltungsdirektorin an, die praktisch die Karten auf den Tisch gelegt hat. Wie es weitergeht? 2024 soll das Filmhaus wieder in Betrieb sein. Wir bleiben dran.

Wie auch an der Kölner SPD. Hier hat die Noch-Landtagsabgeordnete Susana dos Santos das politische Kunststück geschafft, ihre Partei zu spalten und gleichzeitig die früher wichtigen linken und rechten Flügel zu einen. Das kam so: Gegen alle internen Absprachen und Kandidatenlisten wollte die Abgeordnete in letzter Minute ihren Wahlkreis wechseln und plötzlich im sicheren Mülheim kandidieren statt im angestammten Innenstadt/Kalk. Ihre Argumente – unter anderem benötige sie als künftige Kölner Parteivorsitzende die materielle Absicherung durch das Mandat – drangen nicht durch.

Von „Hasenfüßigkeit“ sprach Reiner Hammelrath, seit fast einem halben Jahrhundert als sperriger, linker Sozialdemokrat bekannt. Ihm sekundierte im Geiste der Mülheimer Bezirksbürgermeister Norbert Fuchs, der sich eher dem rechten Flügel zuordnen würde. In der alles entscheidenden Delegiertenkonferenz kam es zu einer Art Showdown. Carolin Kirsch, Ehefrau des früheren NRW-Staatssekretär Jan Marc Eumann, setzte sich knapp gegenüber Susana dos Santos durch. Sie übernimmt nun den sicheren Wahlkreis den Martin Börschel, einst starker Mann der SPD und in Köln, frei gemacht hat.

Das Festhalten an Absprachen erklärt sich aus der SPD-Geschichte. Mitglieder machten die Erfahrung, dass man nur gemeinsam stark sei. Dahinter standen persönliche Ansprüche zurück – wie es jetzt bei Karl Lauterbach zu beobachten war. Der SPD-Abgeordnete wäre problemlos als Gesundheitsminister zu vermitteln gewesen, beugte sich aber der Parteiräson. Ob Susanna dos Santos sich vom angestrebten Parteivorsitz zurückzieht? „Ich bin für den Parteivorsitz einstimmig nominiert worden. Ich werde in den nächsten Tagen abwägen, welche Schlüsse ich aus dem gestrigen Ergebnis ziehe,“ erklärt sie. Was für eine Pointe – selber Absprachen brechen und sich im nächsten Schritt auf Absprachen berufen – wenn es der eigenen Person dient. Mag sein, dass die SPD in NRW im Aufwind ist. In der größten Stadt des Landes ist sie es so sicher nicht.

Ein Perspektivwechsel: Im südlichen Afrika ist die Empörung groß. Genforscher hatten dort die Omikron-Mutation des Corona-Virus entdeckt. Das brachte dem Land zwar Lob der US-Regierung ein. Doch Europa verhängte Reisebeschränkungen und kappte Flugverbindungen. Der Zorn darüber einte wiederum die polarisierte Gesellschaft am Kap. „Nur weil wir hier und sehr schnell diese Variante identifiziert haben, heißt das nicht, dass Omikron aus Südafrika stammt,“ sagte ein Wissenschaftler. In der Tat herrscht im Großraum Johannesburg ein Kommen und Gehen von Menschen aus aller Welt, darunter aus China. Im Grunde zielen die Beschränkungen nur ins Ungefähre, zumal die Infektionszahlen in Südafrika steigen, doch noch erheblich unter deutschem Niveau liegen. Mehr Infos hier.

Weltfremd klingt es, wenn ich die Empfehlung aus einem Fachmagazin lese. „Rasch impfen und die Fallzahlen niedrig halten – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. So zirkulieren weniger Viren und so bremst man die Entstehung von neuen Mutationen“, heißt es da. Doch während hier breit geboostert wird, hat in armen Ländern ein großer Teil der Bevölkerung nicht einmal die Erstimpfung erhalten. Erreichen uns nun über Umwege die Folgen mangelhafter Impfstoff-Verteilung?

So einfach ist es nicht. Auch in Afrika ist eine ausgeprägte Skepsis zu beobachten. Südafrika etwa könnte mehr Serum verimpfen. An der Menge des Stoffes liegt es nicht. Vielmehr steht man hier in irrationalen Begründungen den Impfgegnern des Nordens in nichts nach. In der Demokratische Republik Kongo brannten vor zwei Jahren Camps, die der Behandlung von Ebola-Kranken dienten, und medizinisches Personal wurde getötet.

Tatsache ist, dass der Kampf gegen Corona eine internationale Aufgabe ist. Man gewinnt oder verliert gemeinsam. Über kurz oder lang sitzen Arm und Reich also in einem Boot. Das ist eine fast schon vorweihnachtliche Botschaft.

Herzliche Grüße
Ihr

Peter Pauls

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Newsletter 26. November 2021

Newsletter vom 26.11.2021

Mehrheit für Schließung der Weihnachtsmärkte
Rödder: Die bürgerliche Mitte ist ohne vernehmbare Stimme

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

zur Lebenskunst gehört seit eh und je, unterscheiden zu lernen. Zwischen gut und böse, richtig und falsch, oben und unten. Hier hat der Kölner einen Erfahrungsvorsprung, weil er seit 2000 Jahren gelernt hat, zwischen linksrheinisch und rechtsrheinisch sauber zu trennen. Anders gesagt: Der Kölner hat damit ein feines Gespür für Risse in der Gesellschaft. Womit wir bei Prof. Manfred Güllner wären, der nicht nur als Meinungsforscher (Forsa) ein anerkannter Experte für den Zustand einer Gesellschaft ist, sondern als gebürtiger Rheinländer und (Wahl-)Kölner auch die offensichtlich genetisch notwendigen Voraussetzungen mitbringt.

Er überrascht jetzt mit der Erkenntnis, dass Corona die Gesellschaft keineswegs spalte. Das sei „eine Mär“. Vielmehr habe es „während des gesamten Verlaufs der Corona-Pandemie einen großen Zusammenhalt der übergroßen Mehrheit der Menschen“ gegeben. Allerdings diagnostiziert er „eine tiefe Kluft zwischen dieser großen Mehrheit, die die zur Bekämpfung der Pandemie getroffenen Maßnahmen immer für richtig oder sogar nicht weitgehend genug bewertete, und einer sich immer lautstärker artikulierenden radikalen Minorität.“ Auf diese Minderheit werde („Wie bei den Anfängen der AfD oder von Pegida“) zu viel Rücksicht genommen – weil sie offensichtlich überschätzt wir.

Güllner wäre nicht Güllner, wenn er das Ganze nicht mit Zahlen untermauerte. 74 Prozent der Anhänger demokratischer Parteien sind danach überzeugt, dass die von der Ampel-Koalition beschlossenen Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung nicht ausreichen. 86 Prozent dieser Bevölkerungsgruppe halten eine flächendeckende 2-G-Regel für richtig, 73 Prozent befürworten eine Schließung der Weihnachtsmärkte. Spannend ist der Blick auf die Anhänger der Ampel-Parteien: Während nur rund 25 Prozent der Anhänger von SPD und  Grünen (übrigens auch der Union) das beschlossene Ende epidemischen Notlage gutheißen, sind es bei der FDP knapp 40 Prozent. Nur bei den AfD-Anhängern (55 Prozent) sind es mehr. Was diese Diskrepanz für die Zusammenarbeit der drei Ampelparteien bei ihrer ersten wirklich großen Herausforderung, der Pandemie-Bekämpfung, heißt, wird man sehen. Gemeinsamer Aufbruch, das ist klar, braucht Konsens in der Lageeinschätzung.

Während dem Sieger immer die Bühne gehört, liegt der Besiegte öffentlich kaum beachtet in seinem Elend. Das erlebt gerade die Union, die am 26. September von den Wählern als Scheinriese enttarnt worden ist. Führungs- und orientierungslos irrt die CDU seitdem durch den politischen Ideenladen, auf der Suche nach Führungspersonal und nach sich selbst. Zur Genesung gehört, so steht es schon im ärztlichen Hausbuch, erstmal die richtige Diagnose: Nur ein Bein- oder doch ein Genickbruch? Als Spezialist empfiehlt sich seit geraumer Zeit schon der Historiker Prof. Andreas Rödder, derzeit lehrt er an der weltberühmten Johns-Hopkins-University in den USA.

Ein Anruf bei ihm in Washington soll Aufklärung bringen. „Was hat die Union falsch gemacht, warum hat sie ihren Status als Volkspartei verloren?“, wollte ich von Rödder, der CDU-Mitglied ist, wissen. „Die Union hat sich zu sehr ausschließlich darauf konzentriert, zu regieren. Sie hat ihre Konturen verloren.“ Sie habe sich inhaltlich beliebig gemacht und dem (rot-grünen) Mainstream angepasst: „Was ist die Union mehr als die Programmatik von SPD und Grünen minus zehn Prozent? Darauf haben führende Christdemokraten keine Antwort mehr gehabt.“ Ergebnis sei, dass die bürgerliche, die rechte Mitte ohne vernehmbare Stimme sei.

Nun gehört zum Kurieren nicht nur eine scharfe Diagnose, sondern auch eine wirksame Therapie. Das weiß natürlich auch Andreas Rödder und präsentiert sie in einem Plädyer für einen aufgeklärten Konservatismus. Wer in Konservatismus geistige Enge, Klerikalismus oder Ewig-Gestriges sieht, den korrigiert Rödder schnell: „Konservativ sein heißt nicht, gegen Wandel zu sein. Sondern Wandel so zu gestalten, dass er für die Menschen verträglich ist.“ Sein Vorbild dafür findet er weniger in Deutschland, wo konservativ nicht zuletzt wegen seines historischen Versagens ein fast toxischer Begriff ist. Er verweist auf die lange und letztlich ausgleichende Funktion des britischen Konservatismus, der jahrhundertelang für maßvollen Fortschritt stand. Mit Gleichgesinnten hat er eine Denkfabrik gegründet, die der bürgerlichen Mitte im schrillen Konzert zwischen linker Identitäts- und Genderpolitik sowie Ressentiment-befrachteten Provokationen wieder Gehör verschaffen will. Der öffentlichen Debatte und der politischen Kultur kann diese intellektuelle Aufrüstung  mit Sicherheit nicht schaden – und der CDU möglicherweise wieder Gewicht verleihen. Um sich das zu wünschen, muss man kein Christdemokrat sein.

n diesem Sinne grüßt Sie, herzlich wie stets,

Ihr

Michael Hirz

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Newsletter 19. November 2021

Newsletter vom 19.11.2021

Retten FDP und Grüne die Menschheit? – Kölner kämpfen gegen Obdachlosigkeit vor der Haustür

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

welches Thema bewegt Sie am intensivsten? Die Corona-Pandemie, werden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit antworten und sich kurz darauf ärgern. Gibt es wirklich keine anderen Fragen von Belang? Vermutlich ist es ein geringer Trost, dass laut Forsa-Umfrage 70 Prozent der Deutschen angesichts steigender Infektionszahlen die Pandemie für das wichtigste Thema halten – so viele übrigens, wie auch geimpft sind. Aber sprechen wir deshalb gerne darüber? Die Argumente sind ausgetauscht. Alles ist bereits gesagt oder niedergeschrieben worden. Wir drehen uns im Kreis. Dass einen häufiger der Corona-Kater überfällt, als habe man einer schlechten Angewohnheit aus persönlicher Schwäche zu viel Raum gegeben, ist kein Wunder. Daher bleibt der Rest dieses Newsletters coronafrei.

Die Berliner Koalitionsverhandlungen bergen für mich einen inspirierenden Kern: Die mögliche Vermählung von Ökologie und Liberalismus. Im Kölner Stadt-Anzeiger vom 13.11.2021 sprach FDP-Chef Christian Lindner von einem möglichen „Modell für die Welt“. Überhaupt rückten bereits kurz nach der Wahl FDP und Grüne demonstrativ nah aneinander und dokumentierten das durch launige Selfies – eine ökoliberale Annäherung per Instagram in aller Öffentlichkeit.

Wie das Modell für die Welt genau aussehen soll, sagt Christian Lindner im Interview leider nicht. Der Gedanke trägt daher noch die Merkmale eines geistigen Knallfrosches. Doch muss das nichts heißen. Noch laufen die Koalitionsverhandlungen. Und wenn denn eine Regierung ihre Politik in einen neuen gesellschaftspolitischen Rahmen stellen muss, dann wird es diese sein. Die klassischen Wohlstands-Parameter, an denen wir den Erfolg einer Gesellschaft messen, reichen nicht mehr aus, wenn Politik nicht weniger als eine drohende Klimakatastrophe abwenden muss. Fünfmal bereits wurde Leben auf der Erde weitgehend ausgelöscht, schreibt der Autor Peter Brannen, dessen Buch über bisherige Weltuntergänge (The Ends of the World) im englischsprachigen Raum viel Beachtung erfährt. Da, wo das Lindner-Interview Antworten schuldig bleibt, müssen in den Koalitionsverhandlungen also noch Maßnahmen formuliert werden.

Inspiriert sind diese Zeilen von Jens Lönneker, unserem Partner von „Rheingoldsalon“. Wenn mir eine gesellschaftliche Entwicklung auffällt, diskutiere ich sie gerne mit dem Psychologen. Er wies mich auch darauf hin, dass Begriffe wie Geschlechtergerechtigkeit, Nachhaltigkeit oder Diversität selbstverständlichen Eingang in Entscheidungen der Großfinanz gefunden haben. Der US-Vermögensverwalter „BlackRock“ etwa ist überzeugt, dass sich Unternehmen, die in wesentlichen Nachhaltigkeitsthemen führend sind, besser entwickeln als jene, die diesen Aspekten keine große Bedeutung beimessen. Solche Firmen dürften nicht nur unter erschwerten Bedingungen, sondern auch in einem günstigen Marktumfeld besser abschneiden als ihre weniger nachhaltig wirtschaftenden Wettbewerber.

Letztlich legt der von „Blackrock“ formulierte wirtschaftliche Trend eine Tangente zum Prozess der deutschen Koalitionsbildung. Sozial-ökoliberale Politik muss ihre eigenen Parameter oder Signale entwickeln. Welche das sein mögen? Noch wird das hinter geschlossenen Türen verhandelt. Seien wir gespannt, was dabei herauskommt und ob wir dann tatsächlich ein Beispiel für die Welt sein werden.

Von einer Aufbruchstimmung, wie man sie sich in einer solchen Situation wünscht, kann bisher nicht die Rede sein. Die Forsa-Umfrage stellt vielmehr schwindendes Vertrauen in eine Ampel-Koalition fest. Das deckt sich mit jüngsten Erkenntnissen von Allensbach. Zwar hat demnach die Ampelkoaliton von allen Koalitionen die meiste Zustimmung. Aber nur 32 Prozent halten sie für „gut für unser Land“, während fast die Hälfte der Befragten „Zweifel haben“. Mit Sicherheit können wir also nur eins sagen: Es fehlt – noch – an einer positiven Orientierung für die Zukunft, der man gerne folgen möchte.

Vor einigen Wochen habe ich an dieser Stelle über ein Bürgerbündnis gegen Obdachlosigkeit berichtet. Zu den liebenswerten Seiten dieser Stadt gehört, dass Menschen sich über Trennendes hinweg FÜR etwas engagieren können. So entstand unter Mithilfe der Stiftung von Erich und Roswitha Bethe die „Arche für Obdachlose“. Völlig unterschiedliche Menschen wie der Notar Konrad Adenauer, Alexander Wehrle vom 1. FC Köln, Rainer Kippe von der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim (SSM), Günter Wallraff oder Hedwig Neven DuMont engagieren sich hier.

Obdachlosigkeit sei in unserer Gesellschaft ein ernstes Risiko geworden, sagt der Sozialarbeiter Franco Clemens, der die Arche berät. Er hat beobachtet, was sie mit Menschen macht, wie diese unter dem Verlust ihrer bürgerlichen Strukturen schon nach kurzer Zeit zusammenbrechen. Verwahrlosung und Alkohol haben dann ein leichtes Spiel. Über die Jahre seien die Probleme gewachsen und Corona habe nun ein Übriges getan. Auch mir fallen die zahlreichen Obdachlosen im Stadtbild auf, und mit ungläubigem Staunen habe ich jüngst die endlos erscheinende Schlange von Menschen gesehen, die an einer Essenausgabe auf ihre Zuteilung warteten. Über die Arche können Sie sich hier informieren. Und Erich Bethe dürfen Sie beim Wort nehmen: Er verdoppelt die eingehenden Spenden!

Falls auch Sie sich beteiligen möchten, finden Sie hier alle notwendigen Informationen. Die „Arche“ steht für Köln, denn sie will die Welt sofort verändern – dort, wo man das am besten kann: vor der eigenen Haustür.

Herzlich grüßt
Ihr

Peter Pauls

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Newsletter 12. November 2021

Newsletter vom 12.11.2021

Ex-Bayer-Vorstand Werner Spinner fordert: Fünf- bis Zwölfjährige gegen Corona impfen

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

es gibt positive Nachrichten, auf die man gerne verzichtet. Zum Beispiel beim Corona-Test. Doch da häufen Sie sich gerade. Mit mehr als 50.000 Neuinfektionen pro Tag schleift die Pandemie gerade eine Höchstmarke nach der anderen. Wie humorlos und ohne Respekt für Brauchtum Corona ist, lässt sich beispielhaft in Köln beobachten: Pünktlich zum Start in die Session am 11. im 11. hat es den närrischen Hochadel getroffen: Prinz Sven I. ist vom Virus befallen und damit das gesamte Dreigestirn in Zwangspause. Jeck ist anders und das karnevalistische Fußvolk derzeit führungslos. Der Machtkampf zwischen Frohsinn und Corona zumindest ist vorerst entschieden. Aber es gilt immer noch: Humor ist, wenn man trotzdem lacht.

Das Lachen vergangen ist allerdings Werner Spinner. Den ehemaligen Bayer-Vorstand (und, ja, natürlich auch FC-Präsident) bringt der Umgang mit der pandemischen Herausforderung so richtig in Rage. Vor allem das Schicksal der Kinder treibt ihn um und sein Zorn gilt vor allem der Ständigen Impfkommission (STIKO): „Dass der Impfstoff für Fünf- bis Zwölfjährige immer noch nicht zugelassen ist, ist völlig unverständlich. Auch bei den älteren Kindern hat die Zulassung viel zu lange gedauert“, meint der im internationalen Gesundheitswesen erfahrene Werner Spinner. Damit werde den Kleinsten der Gesellschaft völlig unnötiges Leid zugefügt. „Kinder haben eben keine Lobby“.

Er begründet seine Haltung auch damit, dass die USA für Kinder längst – und erfolgreich – eine Impfzulassung erteilt haben: „Die US-Zulassungsbehörde ist eine der strengsten der Welt“, weiß er aus als Ex-Bayer-Manager aus eigener Erfahrung.  „Angesichts der rapide steigenden Infektionszahlen sollte Deutschland auch nicht auf die EU warten. Eine Notzulassung des Impfstoffs für Kinder wäre der gebotene Weg.“

Nicht nur für Werner Spinner ist Corona wieder das alles beherrschende Thema. Das zeigen die Umfragezahlen des Meinungsforschungsinstituts Forsa. Inzwischen befürwortet eine Mehrheit der Befragten sogar eine allgemeine Impfpflicht. Interessant ist eine Aufschlüsselung dieses Ergebnisses nach Parteipräferenz: So gibt es bei Anhängern von Union (64 Prozent) und SPD (62) ein klares Votum für die Impflicht, bei FDP (51 Prozent), Linken (60) und vor allem AfD (79) eines dagegen. Interessant: „Drei Viertel der Impfgegner sind Wähler rechtsradikaler Parteien.

Für Forsa-Chef Prof. Manfred Güllner enthält dieses Stimmungsbild den klaren Auftrag an die Politik, „die Erwartungen der übergroßen Mehrheit der Menschen nach einer konsequenten Bekämpfung der Pandemie auch zu erfüllen.“ Dabei steige „der Unmut darüber, dass Minoritäten wie den Impfgegnern immer noch von Teilen der Politik, der Wissenschaft und der Medien zu viel Verständnis entgegengebracht wird.“ Die Tatsache, dass in Krankenhäusern wie der Berliner Charité alle planbaren Operationen abgesagt ist ein zusätzlicher Weckruf. Mal sehen, ob er wirkt.

Ein Weckruf für die ehemaligen Volksparteien könnten auch andere Zahlen von Forsa sein. So ist beim Vertrauen von Wählern und Anhängern der Union in die beiden aussichtsreichsten Aspiranten für den Vorsitz, also zu Friedrich Merz und Norbert Röttgen, deutlich Luft nach oben: Nur schlappe 17 Prozent aller Wahlberechtigten und auch nur wenig beeindruckende 29 Prozent (Merz) und 19 Prozent (Röttgen) der Unionsanhänger halten die beiden für am besten geeignet. Nicht alle Probleme beginnen am Kopf, aber manche eben doch.

Doch die Welt ist relativ. Schaut man auf die SPD und die Erklärung von Saskia Esken, wieder als Vorsitzende zu kandidieren, sieht es ganz finster aus. Nur vier (!) Prozent der Wahlberechtigten und selbst nur vier Prozent der SPD-Anhänger halten Saskia Esken für geeignet. Da kann man nur sagen: Hut ab vor so viel Selbstvertrauen. Oder lebt da jemand in seiner ganz eigenen Blase? Zumindest kann man den Sozialdemokraten Mut zur Originalität nicht absprechen, wenn sie Esken als Vorsitzende wählen, aber ihr die nötige Fähigkeit für den Job nicht zutrauen.

In diesem Sinne grüßt Sie, herzlich wie stets,

Ihr

Michael Hirz

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Newsletter 5. November 2021

Newsletter vom 05.11.2021

Gefangen, wie in einer Zeitschleife: Köln-Mülheim und seine Industrie-Denkmäler im Dornröschenschlaf

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

immer wenn ich die Deutz-Mülheimer-Straße entlangfahre, wähne ich mich in einer anderen Welt, so unwirklich und aus der Zeit gefallen mutet hier alles an. Vor rund 150 Jahren wurde in den gewaltigen Backsteingebäuden, welche die Straße säumen, Geschichte geschrieben. Hier wurden die Motoren produziert, die Industrialisierung, produktive Landwirtschaft und Massenmobilität zu Land oder in der Luft erst möglich machten. Heute stehen die meisten der riesigen Hallen leer, dem Verfall preisgegeben, ob sie nun unter Denkmalschutz stehen oder nicht.

Dabei könnte der Süden Köln-Mülheims wieder Geschichte schreiben – Stadt-Geschichte nämlich. In unmittelbarer Nähe zum Rhein soll hier ein neues Viertel mit Wohnungen, Geschäftsräumen, Schulen und Restaurants entstehen, das Stimmung und Ästhetik der vergangenen Zeit aufnimmt. Bis zu 30.000 Menschen produzierten in Mülheim Motoren für die ganze Welt. Doch von Einsprengseln wie dem Restaurant „Lokschuppen“ oder Event-Hallen abgesehen, ist die Stimmung morbide. Eine Industriebrache. Schaut man in die Archive, dann ist Jahr für Jahr erneut vom Aufbruch die Rede. Aber letztlich geschieht dann wieder nichts. Als wäre das Viertel in einer Zeitschleife gefangen.

Mit Norbert Fuchs, dem Mülheimer Bezirksbürgermeister, und Christoph Kahl, Chef der Immobilienfirma Jamestown, habe ich mir das Viertel angeschaut. Fuchs kennt die immer mal wieder wechselnden Inhaber der großen Areale. Wenn er erzählt, klingt es, als kommentiere er ein Monopoly-Spiel. Der Politiker vereint Erfahrung, Netzwerk und Mülheim-Kenntnis. Doch fehlen ihm Befugnisse. So wirkt er wie ein erfahrener Flugkapitän, der nur über einen Flugsimulator verfügt. Der Kölner Kahl steht für den anderen Teil von Stadtentwicklung. Eine Kernkompetenz seiner Firma sei die Revitalisierung von alten Industrieflächen, sagt er. Mülheim sei ein Meilenstein für sein Unternehmen, das sich inzwischen stärker Europa und Deutschland zuwende nach Jahrzehnten des Engagements in den USA. Fuchs und Kahl gehören zusammen wie die zwei Seiten einer Münze: Der Politiker setzt den großen Rahmen, innerhalb dessen der Investor entwickelt.

„Ich will hier Kräne sehen“, hat Norbert Fuchs über die Jahre immer wieder in Interviews gefordert. Doch die, die nun seit einigen Monaten auf einem der Grundstücke stehen, sind ebenso unbelebt wie der Rest des siechen Areals. Aus irgendeinem Grund geht es wieder nicht vorwärts. Von einem Planungsfehler ist die Rede und nicht eingehaltenen Mindestabständen zum Rhein. Mit Christoph Kahl, der die frühere KHD-Hauptverwaltung erwarb, hätte Bewegung kommen können. Doch Kahl beugte sich einem Vorkaufsrecht der Stadt. Hintergrund: Der Kölner Rat hatte die Verwaltung angewiesen, die frühere Hauptverwaltung zu erwerben. Künstler, die dort ansässig waren, hatten erfolgreich um öffentliche Unterstützung für ihre Ziele geworben und die Politik eingespannt.

Nun hat die Stadt zwar noch keine durchgängigen Baupläne für das gesamte Areal aufgestellt, steht aber bereits in der Pflicht, den Willen des Rates umzusetzen und Verbindungen von „Kultur, Wohnen und Arbeiten“ auszuprobieren. „Eine Verirrung“, nennt das ein politischer Beobachter und spricht von Politik fürs Schaufenster. Man lebe planerisch von der Hand in den Mund, werde Größe und Potenzial der gewaltigen Entwicklungsfläche nicht gerecht und schaffe nur Stückwerk – wenn überhaupt. Die Aversion der Politik privaten Investoren gegenüber sei mit Händen greifbar. Doch wie soll es ohne sie gehen?

In seinem ganzen, ruhigen und gediegenen Auftritt entspricht Christoph Kahl ohnehin nicht dem Bild des profitgetriebenen Investors. Er hat Unterlagen seiner weltweiten Projekte zur Hand, zeigt bereitwillig, wie man bereits mit einfachen Mitteln Stadtteile beleben kann, begeistert sich für das eine, leerstehende Objekt, kritisiert an einem anderen die stilistisch missratene Aufstockung und macht den Eindruck, dass er gerne und mit Sachkenntnis macht, was er tut. Die Stadtverwaltung, das ist ein offenes Geheimnis, hätte es gern gesehen, dass er die frühere KHD-Hauptverwaltung behält, zumal er für etwas wie Maß und Mitte steht. Aber der Rat wollte es anders.

Unwillkürlich kommt einem irgendwann das Märchen von Dornröschen in den Sinn, zumal in Mülheim allenthalben Brombeerhecken wuchern. Welcher Prinz auch immer die schlafende Königstochter wachküssen wollte, verendete in Dornbüschen um das Schloss. So ging die Zeit dahin. Bis der Fluch erlosch und es einem Prinzen gelang, zu Dornröschen vorzudringen. 100 Jahre hat das gedauert. Fast ein Kölner Märchen, möchte man meinen.

Die Inzidenzen steigen. Daher wünsche ich Ihnen ein gesundes Wochenende.

Herzliche Grüße
Ihr

Peter Pauls

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Newsletter 29. Oktober 2021

Newsletter vom 29.10.2021

Achtung: Die Gendersternchen kommen – Martin Börschel geht

Sehr geehrte Mitglieder,

liebe Freund*innen des Kölner Presseclubs,

es ist nun wirklich mal an der Zeit, eine Lanze für die Kölner Stadtverwaltung zu brechen. Na gut, in puncto Sauberkeit, Sicherheit, Verkehr und etlichen anderen Feldern ist noch sehr viel Luft nach oben. Aber untätig? Nein, das ist die Verwaltung mit ihren rund 20.000 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen (neu: Mitarbeitende) absolut nicht. So hat sie  beispielsweise einen „Leitfaden für wertschätzende Kommunikation bei der Stadt Köln“ erarbeitet. Der schreibt auf 56 Seiten detailgenau eine neue Amtssprache mit Gendersternchen und Binnen-I vor. Somit spielt Köln zwar nicht im Fußball, aber in der Disziplin Gendergerechtigkeit ab sofort in der Champions League – Donnerwetter! Da überstrahlt doch das Gendersternchen hell alle Schmuddel-Ecken, alle gravierenden Defizite der städtischen Infrastruktur. Das rechtfertigt auch den selbstbewussten Stolz, wie er in Henriette Rekers Vorwort zum Ausdruck kommt: „In unserer täglichen Arbeit sind wir Expert*innen.“ Ja, die Oberbürgermeisterin hat in ihrer eindrucksvollen Bilanz der Symbolpolitik einen weiteren wichtigen Baustein hinzugefügt.

Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich ist Diskriminierung unverzeihlich und gegen Gedankenlosigkeit im sprachlichen Umgang muss vorgegangen werden. Aber dass man künftig z.B. auf kölsche Weisheiten wie „Jeder Jeck ist anders“ (spricht nur Männer, nicht aber Frauen und Diverse an) oder den Begriff „Fußgänger“ (neu: Zufußgehende) verzichten muss, ist gewöhnungsbedürftig. Was wird dann zum Beispiel aus der Fußgängerzone? Bevor man jedoch beim Blick auf durch die Verwaltung ausgelöste Umsetzungsprobleme in Ratlosigkeit versinkt, sollte man da nachfragen, wo es jenseits des hektischen Alltags Orientierung gibt: Bei der Philosophie.

Gerade hat sich die Philosophin Svenja Flaßpöhler Gedanken zur neuen deutschen Empfindsamkeit gemacht. Mit ihr habe ich über sprachliche Sensibilität, Gendergerechtigkeit, Identitätspolitik  und Toleranz gesprochen. Natürlich, sagt sie, ist menschheitsgeschichtlich Sensibilität ein großartiger Fortschritt: „Menschen schützen sich gegenseitig in ihrer Verletzlichkeit, werden empfänglicher für fremde Gefühle und Bedürfnisse.“ Doch diese Entwicklung habe eine Kehrseite: Die Gesellschaft werde durch Aufteilung in immer mehr Gruppen und Grüppchen, die alle gesondert angesprochen und behandelt werden wollten, zersplittert, das Gemeinsame wird zerstört. Zu dieser Entwicklung trägt, so habe ich es verstanden, Sprache und Sprachgebrauch bei. Drastischer hat es der österreichische Philosoph Robert Pfaller ausgedrückt: „Diese Spracheingriffe sind durchweg dilettantisch und lassen sich in den meisten Fällen weder schreiben noch sprechen.“ Nun müssen Stadtverwaltung und Oberbürgermeisterin lernen, dass sie nicht nur für ihre Versäumnisse, sondern gelegentlich auch für ihren tatkräftigen Eifer kritisiert werden. Aber vielleicht findet die Stadt ja auch andere Wege, ihren Bürgerinnen und Bürgern gegenüber Wertschätzung zu zeigen. Dazu braucht sie nicht einmal die Nachhilfestunden bei Philosophen!

Rat brauchen allerdings die beiden ehemaligen Volksparteien. Prof. Manfred Güllner und sein Meinungsforschungsinstitut Forsa messen aktuell nur noch 20 Prozent für die Union und 25 für die SPD – magere Werte. Interessant ist das vergleichsweise große Vertrauen in Olaf Scholz (53 von 100 möglichen Punkten), aber dramatisch schlechte Werte für alle anderen Spitzengenossen. Schlusslicht ist die Vorsitzende Saskia Esken (21 Punkte), die in ihrer Unbeliebtheit nur noch von der AfD-Fraktionschefin Alice Weidel überboten wird. Lediglich Generalsekretär Lars Klingbeil und der Kölner Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach können bei den Wählerinnen und Wählern bestehen – Lauterbach kommt immerhin auf 40 von 100 Punkten. Ob es für eine mögliche Kanzlerpartei reicht, dass nur eine einzige Führungspersönlichkeit mehrheitlich Vertrauen genießt, das muss sich noch zeigen.

Und da wir gerade bei der SPD sind: Martin Börschel tritt zur Landtagswahl im Mai kommenden Jahres nicht mehr an. Mit seinem Namen (und dem seines Alter Ego Jochen Ott) verbindet sich die Wiederauferstehung der Kölner SPD nach den Skandalen um die Jahrtausendwende. Börschel und Ott waren es, die nach Insidergeschäften und Müllaffäre die Partei konsequent aus der Existenzkrise geführt und einen Neuanfang geschafft haben. Den klugen Strategen Martin Börschel, der bis weit in bürgerliche Kreise hinein geschätzt und geachtet wurde, verließ dann 2018 sein politischer Instinkt, als er auf den neu geschaffenen und gutdotierten Posten eines hauptamtlichen Geschäftsführers des Stadtwerke-Konzerns wechseln wollte. Als Folge der öffentlichen Kritik am Hinterzimmer-Deal legte Börschel seine Kölner Ämter nieder, blieb aber als einer der kenntnisreichsten und bestvernetzten Akteure aktiv. Der Rückzug aus dem Landtag kommt jetzt zu einem Zeitpunkt, wo die Sozialdemokratie einen leichten Aufwind verspürt. Da scheint bei dem gelernten Rechtsanwalt entweder der Wunsch nach einem politikfernen Leben übergroß. Oder er hat eine attraktivere Alternative. Vielleicht auch von beidem etwas. Wir werden es demnächst erfahren.

In diesem Sinne grüßt Sie, herzlich wie stets,

Ihr

Michael Hirz

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Newsletter 22. Oktober 2021

Newsletter vom 22.10.2021

Die Zukunftsfrage: Wie hilft man Köln oder ist Köln nicht zu helfen?

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

als der dänische Reeder Arnold Mærsk Mc-Kinney Møller beschloss, seiner Heimat ein Opernhaus zu schenken, ging er auf die 90 zu. Viel Lebenszeit blieb dem Mann, der das größte Unternehmen Skandinaviens geschaffen hat, nicht. Daher ließ er der Kopenhagener Stadtführung keine Wahl: So und nicht anders sollte das Geschenk aussehen, wie es ein von ihm beauftragter Architekt von Weltruf entworfen hatte. Ferner trat der Geber als Bauherr auf. Letztlich wurde die Bedingung akzeptiert. Nach nur drei Jahren wurden die Pläne für die Dänische Nationaloper Wirklichkeit und Mærsk konnte noch lange in „seine“ Oper gehen, bis er im Alter von 98 Jahren starb.

Ob der Mäzen auch in Köln weitergekommen wäre? Der Fall des Stifterehepaars Hans und Marlies Stock war indes nicht so spektakulär, hatte es aber dennoch in sich. Die Eheleute hatten der Stadt eine Erweiterung des Kölner Stadtmuseums schenken wollen. Zunächst blieb das Angebot ohne Reaktion, und dann geriet es heftig in die Verwaltungs- und Politikmühlen. Diese hatte der Reedereichef sich seinerzeit ersparen wollen, denn hierfür sind gute Nerven nötig. Gebende fühlen sich mitunter auf den Behördenvorgang reduziert. 2009 zog das Ehepaar Stock sein Angebot gekränkt und verärgert zurück.

Oder der Stifterrat für das Wallraf-Richartz-Museum (WRM). Er war 1999 auf Anregung des verstorbenen Kölner Oberstadtdirektors Lothar Ruschmeyer gegründet worden, den die Kosten für den WRM-Neubau sorgten und der Unterstützer suchte – letztlich grundlos, wie sich später herausstellte. Als Folge setzte der Stifterrat, der nun über erhebliche Mittel verfügte, sich für den Bau eines Erweiterungsbaus des Museums ein.

Das Spiel dauerte fast 20 Jahre. Eine deutliche Wendung zum Besseren gelang erst, als OB Henriette Reker die Erweiterung zur Chefsache machte und in Peter Jungen als Stifterratsvorsitzendem ein beharrliches Gegenüber fand. Die Debatten um die Kunst-Sammlung des Ehepaars Corbaud lasse ich außen vor. Sie würde mehr als einen Newsletter füllen.

Lassen Städte und insbesondere Köln ihren Bürgern Raum? Greifen sie Angebote auf und schauen, wie sie Initiativen in einen Aufgabenkatalog integrieren können? Oder spricht man einfach nicht die dieselbe Sprache und großzügige Angebote werden als Störung der Arbeitsroutine wahrgenommen? Überfordert man sich gegenseitig? Wer bindet die Initiativen in den Stadtvierteln ein, schafft Räume, setzt Grenzen? Ist der Gedanke, der Hohe Straße ein Dach zu geben, mehr als eine Silvesterrakete, die nur sekundenlang glitzert? Ebenso wie die Verlegung des Kölner Hauptbahnhofs? Oder die Pläne für den Neumarkt, beauftragt von einer Anwohnerinitiative um den Kunst-Auktionator Henrik Hanstein? Ist die Kraft des „KölnGold“-Buches etwa bereits verpufft und dient der Neubau einer Rheinischen Musikschule nur dem Geldbeutel daran beteiligter Unternehmen? Braucht Köln seine Bürger nicht mehr denn je?

Über solche (Zukunfts-)Fragen diskutiere ich im Kölner Presseclub am Mittwoch, 10. November, 19.30 Uhr im Hotel Excelsior Ernst mit Stadtdirektorin Andrea Blome, dem Bauunternehmer Anton Bausinger und dem Architekten Kaspar Kraemer. Sie sind interessiert und geimpft oder getestet? Wir freuen uns über Ihre Anmeldung unter info@koelner-presseclub.de.

Das hatten wir noch nie – einen Konzerthinweis für Sie: Am 31. Oktober um 19:30 Uhr tritt der Kammerchor „Les Lumières“ (www.les-lumieres-eu) unter Leitung von Michel Rychlinski mit der Sopranistin Inger Torill Narvesen und dem Bariton Christophe Gautier in der Basilika Kloster Knechtsteden auf. Am Klavier begleitet wird das Ensemble von Florian Noack und Naré Karoyan. Die Musiker präsentieren Ihnen das deutsche Requiem op. 45 von Johannes Brahms und armenische Volksmusik von Komitas in historischer Umgebung, die ihresgleichen sucht. „Les Lumières“ kennen Sie von der sympathischen Kammermusikreihe auf dem Parkhausdach in der Kölner City. Wir konnten vier Karten für Sie zurücklegen. Interessierte schreiben uns unter: info@koelner-presseclub.de. Es gilt das Windhundprinzip.

Vor einem Jahr um diese Zeit stand ein erneuter Lockdown vor der Tür, der Deutschland lahmlegte. In der Zwischenzeit hat jeder die Chance gehabt, sich impfen zu lassen und sein Leben ein Stück zurückzugewinnen. Wo immer es in diesen zwölf Monaten auch geruckelt und gehakt hat – das ist ein Erfolg, den wir nicht vergessen sollten.

Ein schönes Wochenende wünscht Ihnen

Ihr

Peter Pauls

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Newsletter 15. Oktober 2021

Newsletter vom 15.10.2021

Sind die Rufe des Muezzin vom Minarett mit Geläut vergleichbar? – „Kirchenglocken sind keine sprachlichen Botschaften,“ sagt dazu der frühere Kölner OB, Fritz Schramma

Liebe Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

die Lebenserfahrung hat es schon oft genug bestätigt: Das Gegenteil von gut ist nicht etwa schlecht, sondern gut gemeint. Auch der Oberbürgermeisterin Henriette Reker darf man beste Absichten unterstellen. Sie hat jetzt den 35 Kölner Moscheegemeinden erlaubt, dass freitags Muezzins ihre Gläubigen lautstark zum Gebet rufen. Um erwartbarer Kritik gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen, geschieht dies mit behördlichen Auflagen und erst einmal zwei Jahre zur Probe.

Was von Reker als Ausweis rheinischer Toleranz gedacht war (oder sollte es nur ein Befreiungsschlag sein, um den Ruf der Glücklosigkeit abzuschütteln?), kommt indes nicht überall gut an – zumal es gar keine Anfrage einer Moschee-Gemeinde gegeben hat, sondern Henriette Reker mit ihrem beflissenen und vorauseilendem Angebot forsch in die Offensive gegangen ist. Ihr Vorgänger als OB, Fritz Schramma, erinnert mich im Gespräch daran, dass bei der Planung der großen Zentralmoschee in Ehrenfeld die Stadt „sehr strenge Bedingungen verabredet“ wurden: „Dazu gehörte, dass es keine Muezzin-Rufe zum Gebet geben wird.“ Als Mann mit Stil äußert er keine Kritik an seiner Nachfolgerin („Das gehört sich nicht!“), aber in unserem Gespräch wird deutlich, dass hier ohne Not aus einer Lösung – keine öffentlichen Gebetsaufrufe – ein Problem gemacht worden ist. Auch ist es vermutlich lebensfremd, dass ein solcher Versuch nach den zwei Jahren wieder kassiert wird.

Was ihn stört, ist der von Ankara gesteuerte Türkisch-Islamische Moscheeverein Ditib, der sich an viele Verabredungen nicht gehalten habe und sehr expansiv auftrete. Tatsächlich ist spätestens seit dem Eklat bei der Moschee-Eröffnung 2018 durch den türkischen Präsidenten Erdogan das Verhältnis zu Ditib gestört. Die Öffnung der Moscheegemeinde zur Stadt, wie sie in der großartigen Architektur Paul Böhms zum Ausdruck kommt, hat bislang nicht stattgefunden – im Gegenteil.

Der vielfach angestrengte Vergleich der Muezzin-Rufe mit dem Glockengeläut der Kirchen kann Schramma , der sich in seiner Amtszeit sehr um Integration bemüht hat, nicht nachvollziehen: „Kirchenglocken sind keine sprachlichen Botschaften“. In diese Kerbe schlägt auch die Soziologin Necla Kelek, prominente Kritikerin des politischen Islam: Der Muezzin-Ruf sende „eine Ideologie, eine bestimmte Richtung“, mit dem „religiöse Slogans verkündet“ würden, erklärte sie gegenüber Bild. Mit dem Ruf „Allahu akbar“ würden Männer zum Gebet gerufen und Frauen ausgegrenzt. Ähnlich kritisch sieht es die ehemalige SPD-Politikerin Lale Akgün. Gegenüber dem Kölner Stadt-Anzeiger sagte sie, Rekers Plan sei „an keinem Punkt durchdacht“ und „die Symbolpolitik geht nach hinten los“.

Entspannter sieht es der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum. Der große alte Mann der FDP setzt auf eine Gewöhnung, zumal in anderen deutschen Städten der Gebetsaufruf schon üblich sei. Ein wenig Unverständnis über den Muezzin-Ruf hat er schon, denn „heute hat doch jeder eine Uhr und braucht diese Form der Aufforderung doch gar nicht mehr.“

Ihn habe ich aber vor allem angesprochen, weil er einer der Väter der sozialliberalen Ära Brandt/Scheel war, die West-Deutschland nach 1969 reformiert und modernisiert hat. Wie sieht er ein denkbares Bündnis der Liberalen mit SPD und Grünen? Auch heute diagnostiziert er der Gesellschaft einen großen Reformbedarf und sieht in der möglichen Ampel-Koalition eine gute Therapie. Brandts Forderung „mehr Demokratie wagen“ sei wieder hochaktuell. Trotz aller Unterschiede sieht er gerade mit den Grünen die Chance, den dringenden innenpolitischen Handlungsbedarf anzugehen. Das Ziel, der nachwachsenden Generation eine lebenswerte Welt zu hinterlassen, einen beide Parteien: „Man muss das Verbindende suchen“. In der Innen- und Rechtspolitik sieht er gute Anknüpfungspunkte, „FDP und Grüne müssen das Zentrum für Reformen in dieser Koalition bilden“.

Gerhart Baum erinnert daran, dass die FDP mit ihrem sog. Freiburger Programm schon vor 50 Jahren den Umweltschutz ins Zentrum gerückt habe und Konzepte zur gerechteren Vermögensverteilung entwickelt habe. Erst das ermögliche eine gesellschaftlich erfüllte Freiheit, nicht nur eine formale. Auf diese Tradition, so Baum, müsse die FDP sich wieder stärker besinnen.

Der Staat hat für den Liberalen eine „unverzichtbare Schutzfunktion“ für seine Bürgerinnen und Bürger. Das gelte nicht zuletzt für den „Überwachungskapitalismus“, also die multinationalen Tech-Konzerne wie Google, Facebook oder Amazon.

In weltpolitisch turbulenten Zeiten setzt Baum auf eine Stärkung Europas, um autoritären Regimes die Stirn zu bieten und Freiheitsrechte zu verteidigen.

Vor allem eins liegt ihm am Herzen: Die Ampel dürfe sich nicht im Klein-Klein verlieren, sondern mutig und zukunftsorientiert an den großen Themen arbeiten. Es lohnt sich, allen Unkenrufen zum Trotz, vielleicht doch, gelegentlich mal auf alte weiße Männer zu hören.

In diesem Sinne grüßt Sie, herzlich wie stets,

Ihr

Michael Hirz

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