NEWSLETTER 17.11.2023

Wie es kommt, dass die Stadt Köln über Ihre neue Badewanne entscheidet – Luxus darf es nicht geben, sagt der Vormund vom Amt

 

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

gehört Ihnen eine Altbauwohnung im Kölner Severinsviertel? Oder Sie sind Mieter? Sie möchten Ihr Badezimmer modernisieren und attraktiver machen? Dann geben Sie acht. Nicht, dass Sie gegen die „Soziale Erhaltungssatzung“ der Stadt Köln verstoßen und ein Bußgeld von bis zu €30.000 riskieren. Seit einigen Jahren gibt es den „Milieuschutz“ auch in diesem urkölschen Viertel. Er soll vor „Luxussanierung“ und Verdrängung alteingesessener Bewohner schützen, Mieten auf erträglichem Niveau halten und verhindern, dass ein Viertel seinen Charakter verliert, was man auch Gentrifizierung nennt.

Das ist die gut gemeinte Theorie. Zu ihr gehört ferner, dass „Konzerne“ abgeschreckt werden sollen, um Menschen nicht um ihren günstigen Wohnraum zu bringen. Dies könnte passieren, wenn Parkettböden gelegt, Bäder modernisiert, Aufzüge installiert, womöglich bodentiefe Fenster oder gar ein Kamin eingebaut oder das Treppenhaus verschönert wird. Luxus, der sich dann in höheren Mieten niederschlägt. Doch nur etwa sechs Prozent der Kölner Wohnungen gehören Unternehmen, und man findet sie meist konzentriert in Großanlagen.

Sicher nutzt eine solche Satzung dem einen oder anderen. Aber sie verordnet einem Stadtteil auch Stillstand. Selbst „nachhaltige Einsparungen von Energie und Wasser“ sind genehmigungspflichtig. Daher frage ich mich, wieviel politischer Aktionismus hinter solchen Satzungen steht in einer Stadt, die es nicht schafft, ausreichend den Bau von Wohnraum zu ermöglichen.

In der Praxis ist eine neue Bürokratie entstanden. Im Zweifelsfall entscheiden nicht Sie, sondern das städtische Amt für Stadtentwicklung und Statistik über Ihre Wasserhähne, den Bodenbelag oder die Art Ihrer Fenster. Zitat aus dem städtischen Standard-Antrag: „Genehmigungspflichtig sind sämtliche Modernisierungsmaßnahmen, die den Gebrauchswert des Wohnraums nachhaltig erhöhen, die allgemeinen Wohnverhältnisse auf Dauer verbessern oder nachhaltige Einsparungen von Energie und Wasser bewirken.“ Den Original-Antrag finden Sie hier.

Da steht der Obrigkeitsstaat in voller Blüte. Die kühle Amtssprache des Formulars kennt man aus Steuererklärungen, amtlichen Belehrungen und anderen Kontakten mit Verwaltungen. Gerne wird gedroht und Wahrhaftigkeit eingefordert, als habe man mit notorischen Lügnern zu tun. Bundesgesetzblätter aus vielen Jahrgängen werden beschworen, Paragrafen und Verordnungen. Vor allem reiht sich Ermessensspielraum an Ermessensspielraum. Letztlich entscheiden Sachbearbeiter. Vielleicht sucht man besten gleich gemeinsam mit dem Amt Böden, Bad und Küche aus.

Folgendes Szenario ist denkbar: Durch einen glücklichen Umstand können Sie eine kleine Nachbarwohnung kaufen, weil bei Ihnen Nachwuchs unterwegs ist? In der Erhaltungssatzung kommen Wohnungszusammenlegungen aber nicht vor. Alles soll bleiben, wie es ist. Ein Fahrstuhl, der auch dem älteren Ehepaar aus dem vierten Stock hilft? Vielleicht. Aber bloß nicht aufwändig. Oder eine Gegensprechanlage? Schließlich will man wissen, wer ins Haus kommt. Da haben Sie schlechte Karten. Das riecht nach Luxus. Aber lesen Sie selbst.

Von „Volkserziehung“ spricht die Architektin Stefanie Ruffen (FDP), mit der ich über diesen „Schutz“ sprach, der meiner Meinung nach häufig zu blauäugig dargestellt wird. Als sei er selbstredend gut. Das ist er nicht. Vielmehr schreibt er Menschen unnötig vor, wie sie zu leben haben. Die FDP-Ratsfrau nennt das die „Ideologisierung der Kommunalpolitik“.

Dazu gehört ihrer Meinung nach auch ein Bürgerantrag, auf städtischen Werbeflächen künftig nicht mehr für klimaschädliche Güter zu werben wie z.B. für Ford-Automobile oder Fleischprodukte. In vorauseilendem Gehorsam hat die Verwaltung gleich eine Vorlage dazu erstellt, die durchgewunken wurde. Entscheiden bald Kölner Ämter, was klimaschädlich ist und was nicht? Der „Halve Hahn“ womöglich? Er besteht aus Käse und Butter, die aus Milch von Kühen produziert werden, die Methan produzieren, was der Umwelt schadet.

Gegen die Verwaltung habe ich nichts. Aber in meinem Leben möchte ich so viel wie möglich selbst entscheiden – ohne den Vormund vom Amt.  

Ballermann oder Brauchtumspflege? lautet der Titel des aktuellen Poetry-Podcasts von Susanne Hengesbach: Müllberge, Scherbenhaufen, verwüstete Wiesen, Alkoholvergiftungen, sexuelle Übergriffe – so umschreibt man in Deutschlands viertgrößter Stadt den „Beginn der Karnevalssession“. Ihr Neffe Jan zieht ordentlich vom Leder. Die Oberbürgermeisterin hat „keine Idee“, wie man die Feiernden unterbringen soll, und die Stadtdirektorin resümiert: „Ein paar Idioten gibt es immer . . . “ Hören Sie hier nur rein, wenn Sie denken, dass es so einfach nicht weitergehen kann.

Ich grüße Sie herzlich.

Ihr

Peter Pauls

NEWSLETTER 10.11.2023

Über mörderisches Prahlen,

einen Krieg der Werte und  

Lob für Henriette Reker 

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

manchmal gibt es so etwas wie einen Schock nach dem Schock. Da schlachtet eine menschenverachtende Terrorgruppe wehrlose Kinder und Greise ab, vergewaltigt Frauen und stellt diese Taten mit Videos prahlerisch ins Netz, da verschleppt eine Mörderbande Unschuldige. Ein Schock sondersgleichen. Und was passiert? Dann scheint die Strategie der Terroristen aufzugehen, die Opfer – Juden und Jüdinnen – werden zu Tätern umetikettiert. Auch in Deutschland gehört die Straße den Sympathisanten der Hamas, werden die Schlächter beklatscht und die Abgeschlachteten verhöhnt. Zehntausende demonstrieren für Palästina und gegen Israel, fordern selbstbewußt die Errichtung eines islamistischen Kalifats in Deutschland. Vergleichsweise wenige Solidaritätsbekundungen gibt es hingegen für Israel, die einzige Demokratie im Nahen Osten. Das ist der zweite Schock. Wie, fragt man sich verstört, fühlt es sich in diesen Tagen an, Jüdin oder Jude zu sein in diesem Land?

Um das zu erfahren, habe ich mit Andrei Kovacs gesprochen. Ihn habe ich kennengelernt, als er 2021 erfolgreich die Veranstaltungsreihe „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ organisiert hat. Auch für ihn war der 7. Oktober nicht nur ein Tag des Schreckens, er war eine Zäsur. Allerdings beeilt er sich mit einem Lob für die deutsche Politik und ihre Akteure: Die Aktuelle Stunde im Bundestag, Robert Habecks deutliche Worte, die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, alle hätten unmissverständlich Position bezogen. Auch der Umgang in den Schulen mit dem Terroranschlag hat ihn positiv beeindruckt, sagt der Vater von drei schulpflichtigen Kindern.

Dennoch, für ihn gibt es seit dem Überfall der Hamas eine neue Zeitrechnung, das Datum nennt er Zäsur: „Ein Trauma, auch für die Juden in Deutschland.“  Das Leben sei unsicherer geworden, Übergriffe nähmen zu, Hakenkreuz-Schmierereien, Davidsterne an Häusern, um auf darin wohnende Juden hinzuweisen. Die öffentlich gezeigte Empörung, wie sie Antirassismus-Gruppen und Bündnisse gegen Rechtsextremismus wie „Arsch huh“ schnell und lautstark aktivieren können? Irgendwo zwischen Fehlanzeige und wenig wahrnehmbar. Die Enttäuschung darüber lässt Kovacs allenfalls zwischen den Zeilen erkennen.

Was ihn irritiert, ist der Umstand, dass von den knapp sechs Millionen hier lebenden Muslimen allenfalls zögerlich Solidarität mit den Opfern geübt wird. „Wo bleibt der Aufschrei“, fragt sich Kovacs. „Auch sie sind vielfach Deutsche, Teil der Gesellschaft.“ Schließlich schüre die Hamas mit ihren Untaten auch die Islamfeindlichkeit hierzulande. Für rechtsradikale und rechtsextreme Kräfte ist, da hat Kovacs wohl recht, der auf Demonstrationen zur Schau gestellte Israel-Hass ein willkommener Anlass, gegen Muslime zu hetzen. Neben dem sogenannten importierten Antisemitismus („Das gehört in etlichen Ländern der islamischen Welt zur Staatsräson“), gebe es auch hier immer noch mal subtilere, mal offenere Judenfeindlichkeit. Um nicht missverstanden zu werden, Kritik an Israels Regierung und ihrer Politik sei selbstverständlich möglich. Nicht aber die Aufforderung zur Auslöschung des Landes und seiner Bewohner. Natürlich erschüttert auch das Leid der Menschen in Gaza, das aber, soviel gehört zur Wahrheit, von der Hamas sowohl ausgenutzt als auch in großen Teilen verursacht ist.

Aber man weiß schon aus der Kindererziehung, Jammern hilft nicht, Handeln schon. Deswegen hat, unabhängig vom barbarischen Hamas-Terror, Andrei Kovacs den Verein „Jüdisches Leben in Deutschland e.V“ (www.jewlif.com) mitgegründet. Dieser paneuropäische Verein will den interreligiösen Austausch pflegen, das zivilgesellschaftliche Engagement stärken und einen positiven Beitrag gegen Rassismus und Antisemitismus in Europa leisten. Denn: „Wir erleben in der Welt gerade keinen Werte-Diskurs, wir erleben einen Werte-Krieg.“

Von den unerfreulichen Erscheinungen der Zeit zu den erfreulichen. Dem Poetry Podcast meiner Kollegin Susanne Hengesbach. Sie widmet sich diesmal, dreimal dürfen Sie raten, dem Weihnachtsgebäck. Das vermittelt offensichtlich ein so beruhigend-flauschiges Gefühl, dass es bereits im September in den Regalen von Rewe, Aldi und Co. liegt – während draußen bei 25 Grad plus der Biergarten mit kalten Getränken lockt. Hören Sie doch einfach mal rein, es lohnt sich.

In diesem Sinne grüße ich Sie, herzlich wie stets,

Ihr

Michael Hirz

 

NEWSLETTER 3.11.2023

Über Rettungsversuche für eine Grünen-Ministerin,
Argumente gegen unbegründete Ängste
und den Besuch einer politischen Altersschönheit

 

 

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

ob es tatsächlich ein Paralluniversum – außerhalb von Science-Fiction-Romanen – gibt, ist bislang nicht belegt. Belegt ist allerdings die Existenz von Paralluniversen in der Politik. Darin lässt sich die Wirklichkeit so lange bearbeiten, bis sie ins eigene Weltbild passt – und bei Wahlen hilfreich ist. Bei der Lösung drängender Probleme ist das, wen wundert’s, eher hinderlich.

Das gilt auch für ein Thema, das wie kaum ein anderes seit Jahren die Gemüter bewegt: Die Flüchtlings- und Integrationspolitik. „Alles unter Kontrolle“ lautet die Botschaft der Regierenden, „Chaos, Versagen, Unvermögen“ kommt es als Echo der Opposition zurück. Besonders heftig ist der Streit in Nordrhein-Westfalen, wo die zuständige Grünen-Ministerin Josefine Paul im Zentrum fundamentaler Kritik steht. Sie gilt mittlerweile selbst den eingeschworenen Anhängern der schwarz-grünen Koalition eher als Teil des Problems als Teil der Lösung. Schließlich ist die Kapazität der landeseigenen Flüchtlingszentren  weitgehend erschöpft, an möglichen Standorten von zusätzlichen Unterkünften formiert sich vehementer Widerstand. Daraufhin wollte die Ministerin die Geflüchteten an die Kommunen durchwinken .

Vielleicht eine naheliegende, aber keine gute Idee. Zumindest in den Augen der Städte und Gemeinden. Sie laufen Sturm gegen eine Politik, von der sie sich überfordert fühlen. Was also tun angesichts von gut 45.000 Geflüchteten allein in den ersten neun Monaten, die aus Syrien, Irak, Afghanistan und anderen Gegenden der Welt in Nordrhein-Westfalen Schutz suchen? Zusätzlich leben derzeit 225.000 Ukrainerinnen und Ukrainer im Land, die vor dem mörderischen Angriffskrieg ihre Heimat verlassen haben. Auch sie gilt es unterzubringen, zu betreuen und versorgen.

Jetzt soll eine überraschende Personalie die Situation retten und damit, gewissermaßen als Kollateralnutzen, auch eine im Feuer stehende Ministerin. Der Hoffnungsträger heißt Jürgen Mathies, ein Mann, der sich als Innenstaatssekretär und Polizeipräsident einen tadellosen Ruf erworben hat. Als Berater der Ministerin soll er helfen, die Migration in NRW besser zu steuern, Prozesse zu optimieren und vor allem für viele der dringend benötigten neuen Unterbringungsplätze zu sorgen.

Im Gespräch mit Jürgen Mathies macht er gleich klar, dass er sich nicht mit dem Asylkompromiss auf EU-Ebene oder den asylpolitischen Entscheidungen Berlins auseinandersetzen will, sein Zeil ist vielmehr, im Gespräch mit den unterschiedlichen Ebenen von Land bis Kommune die NRW zugewiesenen geflüchteten Menschen unterzubringen. Das setzt intensive Überzeugungsarbeit voraus, bei Städten, Gemeinden und nicht zuletzt Bürgern.

Ein zentraler Punkt, das wird im Gespräch mit Mathies klar, ist es, den Anliegern von Unterkünften ein realistisches Bild von der Sicherheitslage zu geben. „Die vielen Besorgnisse, die medial oder an Stammtischen diskutiert werden, sind so nicht begründet. Das ist zumindest meine Annahme und es gilt jetzt, das mit Daten und Fakten zu unterlegen“, sagt der frühere Polizeipräsident. Aber auch Mathies registriert, dass es eine gesellschaftliche Klimawende gegeben hat,  sich die Einstellung gegenüber Migranten gegenüber 2014 oder 2015 geändert hat. Deshalb setzt er auf Aufklärung durch belastbare Tatsachen, auf kontinuierliches Gespräch und Transparenz.

Im allgemeinen Interesse muss man ihm Glück wünschen bei seiner herausfordernden Aufgabe. Sein Ruf als ehrlicher Makler verschafft ihm die Glaubwürdigkeit und argumentative Durchschlagskraft, die nicht nur die schwarz-grüne Koalition in Düsseldorf, sondern die Politik insgesamt, dringend benötigt. Für Josefine Paul ist Mathies vermutlich ein Glücksfall – und vielleicht ihr letzter Trumpf im Ärmel.

Ein Trumpf im Ärmel von Ministerpräsident Hendrik Wüst ist zweifellos sein Innenminister Herbert Reul. Reul, der inzwischen zur politischen Altersschönheit gereifte populäre Innenminister, ist am 23. November zu Gast im Kölner Presseclub, wo er sich den Fragen von Peter Pauls und mir, aber auch von Ihnen stellen wird.

Und hier noch ein Hinweis: In der neuen Episode Ihres Poetry Podcasts erörtert Susanne Hengesbach mit Ihrem Neffen Conrad  ein skandalöses Comeback und spricht über Dinge, die man hierzulande nicht sagen, nicht schreiben und auch nicht belächeln darf. Neugierig geworden? Na, dann hören Sie doch einfach mal rein, aber bitte ganz ernsthaft. Viel Vergnügen!

 

In diesem Sinne grüße ich Sie, herzlich wie stets,

Ihr

Michael Hirz

NEWSLETTER 27.10.2023

Seit der Flutkatastrophe 2021 hat sich viel getan. Doch das Ausmaß wird heute oft kleiner dargestellt, als es tatsächlich war.

 

 

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

an was denken Sie, wenn ich Ihnen folgende Orte nenne: Euskirchen, Schleiden und Bad Münstereifel. Na? Ok, zweiter Versuch: Ahrtal und Erftstadt-Blessem. Genau, die Flutkatastrophe 2021. Erftstadt und das Ahrtal stehen in der allgemeinen Berichterstattung oft symbolisch für dieses Verhängnis mit 184 Toten im gesamten Rheinland. Doch sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass auch viele andere Orte in der Umgebung genauso hart getroffen worden sind. 

Euskirchen wurde der unter die Fußgängerzone kanalisierte Veybach zum Verhängnis und flutete die Innenstadt. In Schleiden entwickelte sich die kleine Olef zum reißenden Strom. Und in Bad Münstereifel zerstörte die Erft die historische Altstadt. Die Folgen in der verschlafenen Kurstadt sind bis heute sichtbar. Zwei Jahre danach sind zumindest äußerlich die größten Schäden beseitigt. Doch beseitigt heißt nicht behoben: die Stadt hat ihr Aussehen an manchen Stellen stark verändert.

Wohl auch der zeitlichen Not geschuldet ist aus dem historischen Stadtkern teilweise urbanes Flair entstanden – mit Steinplatten statt Kopfsteinpflaster, grellen LED-Straßenlaternen statt warmem Licht aus Kronleuchtern und Stahlgeländern statt Ufermauern aus Stein. Hinzukommen die Häusersanierungen, die fachmännisch und modern durchgeführt worden sind. Für eine historische Altstadt mischt sich nun vieles mit Dingen, die dort vor drei Jahren noch nicht zu sehen waren.

Das wird nicht grundsätzlich negativ gesehen. Ganz im Gegenteil. Die Bürgermeisterin von Bad Münstereifel, Sabine Preiser-Marian, verweist darauf, dass der Ortskern barrierefreier geworden ist. Ob im Rollstuhl oder mit dem Kinderwagen: Im Vergleich zu den Zeiten mit Kopfsteinpflaster habe sich hier eine erhebliche Verbesserung ergeben. Und mit Blick auf den Um-, Auf- und Neubau der Altstadt fasst Preiser-Marian zwei Jahre nach der Flutkatastrophe zusammen: „Erstaunlich, was wir schon geleistet haben!“

Deshalb, mein Vorschlag: Machen Sie sich Ihr eigenes Bild! Fahren Sie hin, fast alle Gastronomiebetriebe haben seit diesem Monat wieder geöffnet. Dazu sind viele Geschäfte des Outlets wieder saniert. Der klassische Bummel mit Kaffee & Kuchen lohnt sich auch an kälteren Tagen, wenn Bad Münstereifel besonders seine zwei letzten Silben im Namen betont. Und ja: Heino ist noch da! Zwar schon lange nicht mehr mit seinem Café im Ortskern, dafür am Hang gelegenen Kurhaus. Für den Heino-Besuch brauchen also Sie etwas Puste. Oder Sie fahren gleich mit dem Auto hoch. Eine Zugverbindung wird es erst im kommenden Frühjahr wieder geben. Die Wiederaufbauarbeiten der Bahn dauern länger als geplant.

Während sich der Wiederaufbau in der letzten Phase befindet, ist die Aufarbeitung der Katastrophe für mich immer noch sehr unbefriedigend. Jüngst gab ein Gutachten über die Flut im Kreis Ahrweiler Aufschluss darüber, dass es vor allem an Organisation mangelte. Es hätten formalisierte systematische Abläufe gefehlt sowie ein Verwaltungsstab.

Nun hätte ich für diese Erkenntnis kein Gutachten gebraucht, aber wichtig ist es natürlich trotzdem, die Mängel im Katastrophenschutz in einem konkreten Fall aufzeigen zu können. Besonders auffällig: Die Kreise Ahrweiler und Euskirchen gehören zu den Gebieten mit vergleichsweise wenig Bevölkerung. Neben Euskirchen leben in Nordrhein-Westfalen nur in den Kreisen Olpe und Höxter noch weniger Menschen. War die Katastrophe also auch dem Umstand geschuldet, dass es strukturelle Probleme gab? 

Die Flutkatastrophe hat bereits dafür gesorgt, dass wieder Sirenen aufgebaut werden, die Alarmierung über das Handy funktioniert und regelmäßig Warntage abgehalten werden. Ob die Abläufe im Ernstfall heute besser wären als 2021? Da bin ich mir nicht sicher. Ich spüre im Ahrtal, in Euskirchen, Schleiden und Bad Münstereifel die dringende Sehnsucht, dass bei all dem Leid auch ein Erkenntnisgewinn sichtbar werden muss.

Zum Abschluss möchte ich noch auf den Poetry-Podcast von Susanne Hengesbach verweisen. Sie kümmert sich dieses Mal um die schönste Nebensache der Welt und hat trotzdem einen Trigger parat. Denn es geht darum, dass der FC am vergangenen Sonntag das Derby gegen Mönchengladbach (Anm. des Autors: endlich!) gewonnen hat, aber etwa 1.200 Polizistinnen und Polizisten das begleiten mussten – vom Steuerzahler bezahlt. Das muss ja nicht jedem gefallen…auch nicht jedem FC-Mitglied wie mir. HIER kommen Sie zur aktuellen Folge.

In diesem Sinne sendet Ihnen aufbauende Grüße

Ihr

David Rühl

NEWSLETTER 20.10.2023

Immer ist Köln im Krisenmodus und liefert Negativschlagzeilen. Meine Suche nach dem Positiven in unserer Stadt

 

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

 

in Köln gibt es täglich neue Hiobsbotschaften: von missglückten Verkehrsversuchen, maroden Brücken, über die KVB, die Kirche, die Oper und dazu noch der Dreck und der Lärm mitten in der Nacht. Aber Köln wäre nicht Köln – man hadert mit der Stadt und liebt sie zugleich. Ich habe mich auf die Suche nach dem Positiven gemacht und Kölner Persönlichkeiten aus verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens, der Wirtschaft und der Kultur gefragt, worin sie Kölns Stärke sehen.

An erster Stelle steht der Klassiker „Herz und Leidenschaft“, den auch Stefan Löcher, Geschäftsführer der Lanxess Arena sofort nennt: „Die Stadt und ihre Einwohner sind so begeisterungsfähig, wie an kaum einem anderen Ort des Landes. Egal, welche Zielgruppen unsere jährlich 200 Events ansprechen, die Kölner sorgen immer für gute Stimmung! Wenn wir dieses Gemeinschaftsgefühl in gemeinsame Zukunftsprojekte einbringen würden, wäre Köln im Vergleich zu anderen Städten noch konkurrenzfähiger!“ Aber Löcher sorgt sich, dass der Sport-Standort Köln nicht mehr lange wettbewerbsfähig bleibt. Düsseldorf habe den wirtschaftlichen und kommunikativen Mehrwert von Sportgroßveranstaltungen erkannt und ein größeres Budget bereitstellt. 

In Köln haben wir eine gut aufgestellte Messe. Ihr Chef, Gerald Böse, erzählt mir, dass die Offenheit von Köln der größte Pluspunkt sei: „Wer in Köln zu Gast ist, spürt eine zwischenmenschliche Wärme, wie in keiner anderen Stadt. So spiegeln es mir alle unsere internationalen Messegäste und ich empfinde das genauso. Das Gefühl willkommen zu sein ist eine Stärke von Köln, die es nirgendwo anders gibt.“   

Über Köln etwas Gutes zu sagen, fällt Konrad Adenauer zunächst schwer. Der Schlendrian ärgert ihn. So fragt er sich, warum die Oberbürgermeisterin ihm noch nicht sagen könne, wo die Unterlagen sind, die die Vorgänge von 1995 zur vertraglichen Verankerung auf ein Vorkaufsrecht für das Technische Rathaus in Deutz erklären könnten. Der Stadtkasse gehen nach dem Ende des Mietvertrages im Jahr 2029 ca. 200 Mio Euro durch die Lappen. Diese Entwicklung in diesem nebulösen Kölner Klüngel- und Bauskandal verdient eine neue Betrachtung, finde nicht nur ich. Ungeachtet dessen lobt der Enkel des ehemaligen gleichnamigen Bundeskanzlers eine typische Eigenschaft: „Bewundernswert ist, wie der Kölner trotz aller Unkenrufe zu Stadt und Fußballclub hält und auch stolz auf beide ist. Der Kölner lässt sich nicht unterkriegen.“

Unterkriegen lässt sich auch nicht der Architekt Kaspar Kraemer. Jahrzehntelang kämpfte er mit anderen für den Neubau der maroden Rheinischen Musikschule und geriet dabei zwischen die Verwaltungs- und Politikmühlen. Nun soll 2025 nach 17 (!) Jahren ehrenamtlichen Engagements endlich ein neues modernes Gebäude den Nutzern übergeben werden. Trotz dieser mühsamen Erfahrungen kann Kaspar Kraemer auch loben: „Das Beste an Köln ist für mich das wunderbare kulturelle Angebot in allen Bereichen der Kunst: Die Schätze seiner Museen, das Angebot an Musik, Theater und Tanz, die Galerien und Buchhandlungen, die baukulturellen Reichtümer! Und das alles unterstützt von einem großen Kreis bürgerschaftlich engagierter Menschen zum Wohle der Stadt.  Die Verbindung von Kultur und bürgerschaftlichem Engagement – das ist das Beste für mich an Köln.“

Neben der Hochkultur ist Köln auch ein Pflaster für die freie Szene – mit vielen Herausforderungen. Wie nicht wenige, hadert auch Anja Kolacek vom Künstlerkollektiv raum 13 oft mit dem kommunalen Kleinklein, in dem es immer wieder Gründe gibt, warum gerade etwas nicht geht oder warum mal wieder etwas Einmaliges zerstört wird. Die Künstlerin misst nämlich der Kölner Geschichte die größte Bedeutung zu. „In Köln pocht das kulturelle und urbane Leben seit mehr als 2000 Jahren! Die ganze Stadt ist als Kunstwerk zu begreifen,“ sagt sie und wählt dafür einen ungewöhnlichen Vergleich: Wenn man dann am Kölner Leben teilhaben kann, ist das so wie zu einer schrulligen Großtante eingeladen zu werden: Man weiß nie, was einen erwartet. Das ist das künstlerisch Spannende an Köln.“

Zweitausend Jahre finden sich nicht nur in Steinen und Chroniken, sondern vor allem in Erzähltem und Geschriebenen, konstatiert Dr. Ulrich Soénius, Direktor der Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv. „Inhaltlich hat die Stadt so viel zu bieten, dass sich heute die Kölner immer gerne etwas von gestern erzählen – um es morgen weiterzuerzählen. Geschichten um die Geschichte sind markenprägend für diese Stadt, und zwar in allen 86 Veedeln. Wenn das Lebensgefühl Köln ausmacht, dann ist auch immer etwas Historisches dabei.“

Auch wenn es bei uns immer wieder zu Reibungen, Verzögerungen und Frust kommt – es gibt auch gute Nachrichten: Köln hat mit mehr als 600.000 sozialversicherungspflichtigen Beschäftigen einen Beschäftigungsrekord. Auch die oft kritisierten Maßnahmen zur Digitalisierung zeigen Erfolge: Köln belegt im diesjährigen Smart City Index des Branchenverbands Bitkom hinter München und Hamburg den dritten Platz. Nicht nur zu Lande sondern auch auf dem Wasser ist Köln top: Die HGK Shipping ist das führende Binnenschifffahrtsunternehmen in Europa. Das sind positive Fakten, allerdings auch wenig emotional. Dagegen schaffen unsere Stärken wie Zusammengehörigkeitsgefühl, Begeisterungsfähigkeit, bürgerschaftliches Engagement – auch das des Karnevals, 2000 Jahre Geschichte und Geschichten –  in Köln Identität.

Wir sollten nicht alles schlecht reden. Ja, vieles könnte besser laufen. Dennoch ist es wichtig, den Blick auf die funktionierenden Dinge nicht zu verlieren, und auf die Bürger, die mit viel Engagement, die Stadt zu dem machen, was sie ist: irgendwie doch toll!  Wir in Köln sind nun mal etwas anders als der Rest der Republik. Wir sind auch die einzige Stadt in Deutschland, deren Abkürzung Kölle länger ist als das Ursprungswort.

Anderes Thema: Seit wenigen Wochen ist der Textil Discounter KiK auf der Schildergasse mit einem Pop-up-Geschäft vertreten. „Pop-up“ ist bedeutungsgleich mit ausprobieren. Der organisierte Handel weiß nicht recht, wie er das bewerten soll. Lieber Kik als Leerstand? Wir freuen uns, dass Kik-Chef Patrick Zahn uns im Kölner Presseclub Rede und Antwort stehen will. In dem Gespräch am Mittwoch, 8. November, im Excelsior Hotel Ernst (19.30 Uhr) geht es um Innenstädte am Beispiel Kölns – unser Gast lebt hier. Und natürlich sprechen wir über den Ruf des Discounters, wie er sein Image aufpoliert, über Sinn und Unsinn von Lieferketten sowie seine Sicht auf die Zukunft des stationären Handels. Kurzum: Wir sind so lokal wie international unterwegs. Ihre verbindliche Anmeldung erbitten wir unter info@koelner-presseclub.de.

Mit herzlichen Grüßen

Ihre

Claudia Hessel

NEWSLETTER 13.10.2023

Warum sich die Elektromobilität in Köln neue Wege suchen muss und deutsche Ämter mittlerweile schneller sind als gedacht.

 

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

die Gruppe der Autoren dieses Newsletters erweitert sich und deshalb darf ich mich erst einmal kurz vorstellen: einige kennen mich vielleicht noch aus der Moderation im SWR Fernsehen, als Stimme im Radio oder als Reporter bei wichtigen Gerichtsentscheidungen. Köln und das Rheinland waren aber immer mein Lebensmittelpunkt – egal, wo ich gearbeitet habe. Unterwegs in der Region bin nun auch ich seit wenigen Wochen mit einem E-Auto, womit wir beim heutigen Thema wären.

Es war fast wie beim Konzertkartenverkauf eines Popstars: noch am ersten Tag war das Kontingent erschöpft. Die Rede ist vom Förderprogramm zur „Eigenerzeugung und Nutzung von Solarstrom für Elektrofahrzeuge an Wohngebäuden“. Wer ein Eigenheim hat und ein E-Auto besitzt oder zumindest bestellt hat, konnte für die Investitionen in die Selbstversorgung mit Energie insgesamt bis zu 10.200 Euro vom Staat erhalten.

Noch am selben Tag berichtete die abwickelnde Förderbank KfW: schon der erste Tag des neuen Förderprogramms ist der letzte. 33.000 Anträge seien bewilligt und etwa 300 Millionen Euro ausgegeben. Mehr sei nicht im Budget des Bundes berücksichtigt gewesen. Gestatten Sie mir an dieser Stelle meine ausdrückliche Ver- und Bewunderung auszudrücken, dass eine deutsche Behörde mittlerweile in der Lage ist an einem Tag nicht nur 33.000 digitale Anträge entgegenzunehmen, sondern auch noch zu bewilligen – obwohl die Internetseite zunächst mehrere Stunden überlastet war.

Dennoch habe ich mich gefragt, wie das Förderprogramm denn wohl für einen Kölner anzuwenden wäre? Mit der Eigentumswohnung im Mehrfamilienhaus in der Innenstadt wird es schon kompliziert. Der Stellplatz des Autos müsste in unmittelbarer Nähe liegen. Die allgemeine Kritik lautet deshalb auch, dass die Förderung nur denen diene, die sie finanziell gar nicht bräuchten, also den Eigenheimbesitzern in guter Lage oder am Stadtrand. Für wen ist so eine Förderung also eigentlich gedacht? Die Frage stellte sich nach meiner Ansicht erst als es schon zu spät war.

Noch eine andere Frage stellt sich mittlerweile: wie soll Elektromobilität überhaupt in einer Millionenstadt funktionieren? Gerne erinnere ich an das Gespräch des Kölner Presseclubs mit dem Chef der Rheinenergie, Andreas Feicht. Schon im Frühjahr erklärte er, dass sich die Strompreise wieder (wenn auch auf einem überdurchschnittlichen Niveau) normalisieren werden. Damit hatte sich ein großes Gegenargument für die Anschaffung eines Elektroautos wieder relativiert. Deshalb wird zunehmend diskutiert, wie denn in der Kölner Innenstadt die Ladeinfrastruktur ausgebaut werden kann. Und das stellt sich schwieriger dar als es allgemein empfunden wird.

Zunächst gibt es im Kölner Innenstadtring keine einzige Schnellladestation. Diese stehen entweder hinter der Deutzer Bezirksgrenze, im Süden oder in Ehrenfeld. Meistens handelt es sich auch nur um zwei Ladeplätze. Einen großen Park für das schnelle Laden findet sich erst außerhalb Kölns, beispielsweise in Frechen. Warum? In der Diskussion mit Experten wird schnell klar: das Kölner Netz gibt nicht die Leistung her, die sich viele wünschen. Es bleibt überwiegend bei (11kW-) Ladestationen, bei der ein Elektroauto mehrere Stunden angeschlossen sein muss, um die Batterie auf mindestens 80 Prozent Ladekapazität zu bringen. Deshalb nutze auch ich für mein E-Auto vor der Fahrt in die Tiefgarage den schnellen Ladepunkt am Kreuz Köln-West.

Auch Gespräche aus einer Eigentümerversammlung stimmen mich nachdenklich: so wurde darüber nachgedacht alle 80 Stellplätze einer Tiefgarage mit Wallboxen auszustatten. Doch bis zu den Wallboxen war es in der konkreten Planung dann gar nicht gekommen, denn es fehlte noch der nötige Hausanschluss und die sichere Verteilung quer durch die Tiefgarage. Zusammen mit den Wallboxen wurden von einem Planungsbüro für die 80 Stellplätze knapp 950.000 Euro an Einmalinvestition veranschlagt. Das brachte die Eigentümer sofort dazu, die Planungen erst einmal zu den Akten zu legen – und (wie ich) auf eine bessere Ladeinfrastruktur in der Öffentlichkeit, insbesondere in der Innenstadt zu hoffen.

Sie sehen: da schließt sich ein Kreis. Jeder zeigt mit dem Finger auf den jeweils anderen. Politik, Anwohner und Versorger sollten deshalb einen Weg finden, wie das ganze logisch und effizient gedacht werden könnte. Eigentlich wäre es damit schon wieder Zeit für ein Gespräch mit dem Chef der Rheinenergie.

In diesem Sinne sendet elektrisierende Grüße

Ihr

David Rühl

NEWSLETTER 6.10.2023

Warum Damian Boeselager aus Sorge um Europa „Volt“ gründete und viele eine neue Links-Partei kennen, die es noch gar nicht gibt

 

 

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

sind Sie in Sorge, dass Populismus in der Weltpolitik überhandnimmt? Dass man etwas gegen den Zerfall Europas tun muss? Damian Boeselager erging es so, als er im November 2016 in New York erlebte, wie Donald Trump die US-Präsidentschaftswahl gewann. Es war das Jahr des Brexits, des Höhenflugs von Marine Le Pen und der AFD. Viele machten sich Sorgen. Damian Boeselager beließ es nicht dabei und tat etwas Ungewöhnliches. Mit einer Französin und einem Italiener gründete der heute 35-jährige kurzerhand die pan-europäische Partei „Volt“.

Eine Partei zu gründen ist schwer. Sie in Parlamente zu bringen, dort zu halten und zu professionalisieren (Politik ist auch ein Handwerk) noch schwerer. „Nach fünf Tagen waren wir mehr. Und dann wurden wir noch mehr“, erinnert sich Boeselager. In der Europawahl 2019 zog er als einziger Volt-Abgeordneter ins Brüsseler Parlament ein. Angetrieben von einer Mischung aus Fleiß, Überzeugungskraft und Freude an der Sache, hat der frühere McKinsey-Berater an 25 Gesetzesvorhaben mitgewirkt, an sechs als verhandlungsführender Berichterstatter. Seinen Rechenschaftsbericht finden Sie hier.

Für die Europawahl 2024 droht eine Sperrklausel. Deutschland hat die gesetzlichen Grundlagen dafür bereits geschaffen und Volt kann das an den Lebensnerv gehen. In der Wahl von 2019 holte die Partei hier 0,7 Prozent. Zu wenig angesichts der Hürde von mindestens zwei Prozent, die im Raum steht. Dennoch habe ich von Boeselager keines dieser scharfen und polarisierenden Worte gehört, die zum Alltagsbestandteil von Politik geworden sind. Falls Ihnen der Name Boeselager bekannt vorkommt – der Großvater gehörte dem Widerstandskreis vom 20. Juli 1944 an.

Mut und Zuversicht sind offenbar enorme Energiequellen. „Versuchen ist besser als zuschauen“, sagt Boeselager im Gespräch. Seine Politik sei wertegesteuert: „Mein Traum ist, dass andere unsere Ziele stehlen.“ Ich freue mich, dass dieser aktive Parlamentarier unserer Einladung gefolgt ist und uns am Dienstag, 24. Oktober, 19.30 h im „rheingoldsalon“ (Hohe Straße 160-168) Rede und Antwort steht. Michael Hirz und ich moderieren.     

Was mir noch auffiel, ist Boeselagers Respekt vor Andersdenkenden. „Ich genieße unterschiedliche Perspektiven“, sagt er. Und: „Wenn es dir egal ist, ob dein Name auf Ideen steht, kannst du erfolgreich sein.“ Wichtig sei, dass die Europa-Politik transparent werde. Ursula von der Leyen sei in einem „völlig undurchsichtigen Verfahren“ von den 27 Länderchefs gewählt worden. Die EU-Kommission verfüge zudem über immense Befugnisse, ohne den Wählern gegenüber rechenschaftspflichtig zu sein. Kurzum: Ich erwarte einen spannenden Abend.

Klar ist, dass junge Parteien es schwer haben. Als Jürgen Todenhöfer vor drei Jahre eine eigene Partei gründete, gab ich ihm insgeheim dennoch gute Chancen. Jede seiner Veranstaltungen, die ich besuchte, war bis auf den letzten Stuhl besetzt – ob in der Kölner Volksbühne mit 402 oder der Essener Lichtburg mit 1250 Sitzplätzen. Sein Publikum sind oft Deutsche mit muslimischem Hintergrund, die sich öffentlich nicht ausreichend wahrgenommen fühlen. Das Umfrageinstitut Insa sah das Potential von „Team Todenhöfer“ laut seinem Gründer wenige Wochen vor der Wahl bei bis zu zwölf Prozent. „Wenn sie jetzt noch ins Fernsehen kommen, gehen ihre Werte durch die Decke“, sagten die Meinungsforscher.

Doch dazu kam es nicht. Seit Todenhöfer nicht mehr CDU-Mitglied ist, machen deutsche Medien – anders als internationale Häuser – einen Bogen um den erfahrenen Politiker. Die Vertreter anderer kleiner Parteien könnten sich darauf berufen, wenn auch sie ins Fernsehen oder die Zeitungen drängen. Anders gesagt: Als Chefredakteur, der ich viele Jahre war, hätte auch ich Damian Boeselager nicht einladen können. Mögliche Mitbewerber hätten zurecht Gleichbehandlung gefordert.  

Die Angst des Wählers vor dem Verlust der eigenen Wählerstimme durch die Fünf-Prozent-Hürde schade nicht nur seiner Partei, sondern auch allen anderen, die etwas bewirken wollen, resümiert Todenhöfer. Offenbar könne man Veränderungen nur herbeiführen, wenn man einer traditionellen Partei beitrete. Ob er frustriert sei? „Auch Rom wurde nicht an einem Tag erbaut“, entgegnet der 82jährige. Die zentrale Frage sei, wie demokratisch diese Praxis ist. „Warum gibt es in Deutschland kein Vorwahlsystem wie in den USA?“ Eine Regelung jedenfalls, die Neubewerbern hilft, wahrgenommen zu werden?

Vermutlich erlebt die Bundesrepublik schon bald die Geburt einer weiteren Partei. Sahra Wagenknecht inszeniert seit Monaten die Abspaltung von der Linkspartei, der sie noch angehört. Ihre Botschaften tauchen in Schlagzeilen und Nachrichtensendungen auf. Das führt dazu, dass eine Partei, die noch nicht existiert, bereits jetzt bekannt ist.

Taktisch ist das klug. Doch auch hier gilt: Macht das Beispiel Schule, kann eine Zersplitterung der politischen Landschaft eintreten, die durch Sperrklauseln eigentlich verhindert werden soll. Die Weimarer Republik indes ist an Zersplitterung sicher nicht gescheitert.

Vergangenen Freitag konnten Sie durch ein technisches Versehen den Podcast von Susanne Hengesbach über die Einsamkeit des Kunden nicht anklicken. Aber diesmal. Jeder, der mal versucht hat, auf einer der gefühlt kilometerlangen Etagen eines Warenhauses jemanden zu finden, der einen sachkundig berät, kennt das. Wenn Shopping zum Halbmarathon wird finden Sie hier.  Viel Spaß beim Hören.

 

Ich wünsche Ihnen ein schönes, spätsommerliches Wochenende,

Ihr

Peter Pauls

NEWSLETTER 29.09.2023

Das Faxgerät abschaffen, löst kein digitales Problem in einer Verwaltung. Die schleppende Digitalisierung des Staates gefährdet die Demokratie

 

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

meterlange Schlangen von Menschen, die sich vor einem Kölner Bürgeramt die Beine in den Bauch stehen. Wieso muss man noch persönlich zum Amt? Die Kölner Verwaltung soll doch ein Leuchtfeuer der Digitalisierung sein!  Hier wird mit modernster Technologie gearbeitet – schnell, effizient und unbürokratisch. Die Stadt zählt sich bei jeder Gelegenheit vollmundig zu den digitalsten Städten Deutschlands.

„Solchen Rankings sollte man nicht allzu viel Bedeutung schenken“, widerspricht Valentina Kerst. „Jeder nationale Vergleich ist hinfällig, weil ganz Deutschland digital hinterherhinkt. Es gibt keine Stadt, deren Vorgänge alle top digitalisiert sind – manche machen es gut und manche eben nicht.“ Die Kölnerin war Staatssekretärin für Digitalisierung in Thüringen. Mit ihrem Kollegen Fedor Ruhose hat sie jetzt ein Buch über Digitalisierung in Deutschland geschrieben: „Schleichender Blackout. Wie wir das digitale Desaster verhindern.“

Von Blackout will man in Köln nichts wissen, hier wird reihenweise digitalisiert nach dem Motto: Irgendwo muss man mal anfangen. So wurden in den vergangenen vier Jahren laut Angaben der Stadt 105 Projekte in der Kategorie Dienstleistungen für Bürger digital umgesetzt. 48 weitere Projekte werden in diesem Jahr abgeschlossen und 14 Projekte sind in der Umsetzung für 2024 und darüber hinaus.  Abgeschlossen sind beispielsweise die Online-Anmeldung von Hunden, das E-Payment in der Stadtbibliothek, der QR-Code auf Gebührenbescheiden. Ja, im Geldeintreiben ist die Stadt ausnahmsweise ganz schön flink. Seit September können Kölner ihr Fahrzeug online an-, ab- und ummelden, bald kommt die E-Akte und das Baugenehmigungsverfahren wird jetzt digital erweitert.

Doch schaut man sich die Liste von bislang abgeschlossenen und den noch laufenden Projekte mal genauer an, passt im Grunde nichts zusammen. „Da ist keine Priorisierung von Prozessen, die für den Bürger am dringendsten sind“, kritisiert Valentina Kerst. Überall in deutschen Amtsstuben sieht sie dasselbe digitale Flickwerk und die großen Versprechungen an uns Bürger: Wir digitalisieren doch! „Alle machen mit, aber das WIE ist doch die große Frage“,  stellt Kerst fest.

Immer noch können viele Behördengänge nicht komplett online erledigt werden, weil ein Kompetenzgerangel herrsche zwischen Bund, Ländern, Kommunen und verschiedenen Behörden. Auch das große Wort Datenschutz stehe im Raum. Hinzukommt, dass der Bund aktuell nicht plane, mehr Geld für die Digitalisierung in der Verwaltung auszugeben. „Und solange der Bund nicht mitspielt, bleibt uns der Gang zum Amt nicht erspart“, sagt Kerst. „Um die Digitalisierung zu beschleunigen, braucht es eine andere politische Haltung. Das größte Problem ist, dass wir in Deutschland ein konservatives Gesamtsystem haben mit einer Liebe zum Amtsstempel“, erklärt Kerst. „Das Fax abzuschaffen, wie es die Kölner Verwaltung jetzt bis 2028 plant, löst da auch keine strukturellen digitalen Probleme“, sagt sie. Denn das bedeutet in Zukunft, dass die Bürger sich eine teure digitale Signatur oder in einem komplizierten Verfahren ein  Servicekonto zulegen müssen. So bleiben Behördengänge mit wenigen einfachen Mausklicks vorerst doch noch ein Traum.

Der Frust auf die Arbeitsweise der Verwaltung wächst, zumal unser eigenes Leben täglich immer digitaler wird. Wer bestellt nicht mit wenigen Klicks im Netz? Wer nutzt nicht ständig sein Handy um den Alltag zu organisieren? Da klafft eine große Lücke – mit Konsequenzen für unsere Gesellschaft. „Digitales Verwaltungsversagen ist gefährlich für die Demokratie“, warnt Valentina Kerst. „Mit jedem Jahr der verschleppten Digitalisierung geht das Vertrauen der Menschen in den Staat verloren. Das ist Wasser auf die Mühlen populistischer Stimmen. Es ist schwierig zu verstehen, wenn der deutsche Staat nicht in der Lage ist, Daten der Bürger aus vorhandenen Registern zusammen zu führen. Die Neufassung der Grundsteuer ist hier ein aktuelles Beispiel.“ Und weiter: „Die Menschen müssen dem vertrauen können, was die Politik anstößt. Eine funktionierende Verwaltung ist die Grundlage für einen funktionierenden Staat.“

In Zeiten schnellen Wandels und krisenhafter Herausforderungen, wie wir es gerade erleben, ist ein kompetenter und zuverlässiger Staat die wichtigste Stütze für Demokratie und Wohlstand. Wenn die digitale Transformation nicht gelingt, gerät Deutschland weiter ins Hintertreffen und unser Wohlstandsmodell in Gefahr. Dann beschreiten wir den Weg eines schleichenden Blackouts aufgrund fehlender Digitalisierung, wie die Autoren Kerst und Ruhose es in ihrem Buch beschreiben.

Gerade unsere Stadt Köln, die viertgrößte in Deutschland, sollte bei der Digitalisierung ein Vorbild werden. Da müssen alle Beteiligten – von Stadtspitze, über Politik bis hin zu den rund 22.000 Stadtverwaltungsangestellten und Beamten – an einem Strang ziehen. „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“ – so zitierte die Oberbürgermeisterin kürzlich in einem Zeitungskommentar den Verfassungskonvent von Herrenchiemsee vor 75 Jahren. Das sollte Richtschnur sein.

Digitalisierung ist kein Sprint sondern ein Marathon. Wie zäh etwas sein kann, darauf reimt Susanne Hengesbach in der aktuellen Folge ihres Poetry-Podcast. Jeder, der mal versucht hat auf einer der gefühlt kilometerlangen Etagen eines Warenhauses jemanden zu finden, der einen sachkundig berät, kennt das. Wenn also Shopping zum Halbmarathon wird finden Sie hier .  Viel Spaß beim Hören.

Mit digitalen Grüßen
Claudia Hessel

NEWSLETTER 22.09.2023

Warum schlechte Nachrichten auch positive Botschaften transportieren und die Top-AthletInnen aus Köln unsere Unterstützung brauchen

 

 

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

finden Sie, dass wir von zu vielen schlechten Nachrichten umgeben sind? Von schrillen Anklagen bis hin zur satten Skandalisierung? Dass gefühlt jede zweite Meinungsverschiedenheit zum Eklat oder Zerwürfnis umgedeutet wird? Die Startseite meines Internet-Browsers ist reich an solch drastischem Geschehen und fordert meine Selbstbeherrschung immer wieder heraus. Bloß nicht den Überschriften auf den Leim gehen.

Das Verhältnis von negativen zu positiven Meldungen habe sich tatsächlich verändert, sagte mir kürzlich Manfred Güllner vom Meinungsforschungsinstitut „Forsa“. War es früher ein 1:1-Verhältnis, auf eine schlechte folgte eine gute Nachricht, hat sich das verändert: Heute kommen vier negative auf eine positive Meldung. Es steht 4:1 fürs Schlechte. Woher das kommt? Stark vereinfacht ist der digitale News-Wettbewerb verantwortlich. Geht der eine mit einer Nachricht raus, muss der andere nachziehen. Häufig holt die saftigste Formulierung die meisten Klicks. Alles muss schnell gehen und viele Menschen erreichen.

Nun lade ich Sie zu einer Betrachtung ein, die wie die Redewendung vom halb vollen oder halb leeren Glas funktioniert. Timur Oruz (28) spielt Hockey für Rot-Weiß-Köln, ist Weltmeister, Olympionike, Medizinstudent. Die Sportstadt Köln aber existiert für ihn nicht. Die Worte stünden nur für eine leere Hülse, sagt er. Warum? Weil Köln die eigenen Olympia-Kader (OK) Athleten nicht fördere. Gespräche darüber mit Politik und Stadt blieben so erfolglos, dass Oruz sich 2021 bei der Kölner Sportnacht nicht nur weigerte, gemeinsam mit der Oberbürgermeisterin fotografiert zu werden. Er und 24 weitere Spitzen-Athletinnen und -Athleten schlossen sich zum eigenen Netzwerk zusammen, dem „Verbund Kölner Athleten e. V.“ 

Was Köln leisten solle? „Da muss man das Rad nicht neu erfinden,“ sagt Timur Oruz, „sondern nur nach Düsseldorf schauen.“ 80 Spitzensportler unterstütze die Stadt (inklusive des Nachwuchses) dort. Um welche Summen es geht? Um mittlere dreistellige Beträge im Monat. „Sport ist für uns Lebensinhalt“, sagen die Athleten auf ihrer Homepage. „Aber zahlt er auch den Lebensunterhalt? Wir brauchen Unterstützung.“  

Dieser Internet-Auftritt der Kölner ist so großartig, dass sich die Geschichte hier für mich ins Positive wendet. Die einzelnen Sportlerinnen und Sportler stellen sich offen vor, als würden sie nebenan wohnen. Klar, dass sie viele olympische Medaillen und nationale sowie internationale Titel erwähnen. Das sind einige. Doch auch persönliches wie eine Diabetes-Erkrankung oder Mobbing in der Schulzeit werden nicht ausgeblendet. Felix Streng holte Gold auf 100 Metern bei den Paralympics und blickt auf eine beeindruckende Erfolgsbilanz nicht nur im Sport. Mir fiel Nelvie Tiafack auf, weil er boxt, was ich auf bescheidenem Niveau auch tue. Geboren in Kamerun, Boxer im Superschwergewicht, Deutscher- und Europa-Meister, Sportsoldat. „Meine größten Vorbilder sind Mama und Mike Tyson“, sagt er. Leonie Fiebig, die in diesem Jahr den Weltmeistertitel im Zweierbob gewann, hatte eigentlich als Turnerin begonnen. Kurzum: Man lernt Menschen kennen, nicht glänzende Abziehbilder und versteht deren Wunsch nach Unterstützung und Zusammenhalt.  

Die SportlerInnen haben bereits Sponsoren gewonnen. Rewe, die PSD Bank und die Seitz Rechtsanwälte etwa. Und sie haben prominente Unterstützer wie Andreas Rettig, neuer Sportchef des deutschen Fußballbunds, oder Michael Reschke von Schalke 04. Doch eigentlich sollten sie alle Zeit und Energie auf den Sport richten und nicht auf Unterstützersuche gehen müssen. „Der große Tag naht. Paris 2024! Viele von uns gehen für Köln auf große olympische Medaillenjagd. Unsere Chancen stehen gut. Aber: Gemeinsam erreicht man mehr,“ lautet der Appell der Athleten.  

An einigen Stellen dieser Geschichte habe ich mich geärgert. Weil Düsseldorf es uns wieder zeigt. Aber viel öfter haben mich diese Lebensläufe beeindruckt, der Wille, Höchstleistung zu erbringen und sich nicht entmutigen zu lassen. Im Verhältnis 1:4, würde ich sagen. Auf einen Ärger kommen vier Erfolge. Wollen Sie die Quote noch steigern und die Sportler unterstützen? Dann nehmen Sie Kontakt auf 

Und unser Bedürfnis nach guten Nachrichten? Wir fordern sie zwar, lesen aber zuerst das Negative. Das ergaben vor Jahrzehnten schon Tests mit Zeitungslesern. Aber der Widerspruch störte niemanden, er war ein offenes Geheimnis. Wer mehr Drama wollte, kaufte eine Boulevardzeitung. Das permanente digitale Grundrauschen gab es nicht. Heute sind wir dauernd Online und auf Sendung. Im Dauerlesen digitaler Texte befinden wir uns in einem vorbewussten Zustand. „Dann finden dramatische Nachrichten mehr Beachtung“, hat Jens Lönneker herausgefunden, dessen „rheingoldsalon“ mediale Wirklichkeit untersucht. „Wer in der Frühstückspause Zeitung liest, ist die Ausnahme“, sagt der Psychologe. Dabei sei die Auseinandersetzung mit Texten in ausgedruckter Form intensiver als in elektronischer. Was uns das lehrt? Wir tragen selbst zu einer Misere bei, die wir beklagen. 

Für mich gilt: Unsere Kölner Top-Athleten können in beiden medialen Welten bestehen. Sie sind in jeder Hinsicht außergewöhnlich.  

Und Susanne Hengesbach? In der neuen Folge ihres Poetry-Podcasts spricht sie mit ihrer Freundin Silke darüber, was Frauen inzwischen alles an sich gerissen haben und was sie auch ohne Männer (besser) können . . . Hier klicken, dann wissen Sie mehr.

Herzlich grüßt

Ihr

Peter Pauls

NEWSLETTER 15.09.2023

Wo Ostdeutschland die Nase vorn hat,

Friedrich Merz irrt und der hyperventilierende Kulturkampf den Falschen hilft

  

 

Sehr geehrte Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde des Kölner Presseclubs,

man hat sich dran gewöhnt: Der Westen Deutschlands ist der Motor von Entwicklungen, hier spielt die Musik, wird Wohlstand generiert, Zukunft gestaltet. Der Osten? Na ja, hinkt halt hinterher, immer davon bedroht, abgehängt zu werden. Doch in einem Bereich verzeichnen wir seit Jahren eine Schubumkehr, hier geht der Osten voran, setzt den Trend: Mit dem wachsenden Erfolg der AfD haben die sogenannten Neuen Länder eine Lokomotivfunktion, dort ist die selbsternannte Alternative für Deutschland über weite Strecken schon Volkspartei. Gerade schickt sie sich an, im thüringischen Nordhausen ein weiteres kommunales Spitzenamt zu erobern. Wie kann das sein? Und warum vollzieht sich der Aufstieg der AfD in Ostdeutschland schneller?

„Vor 33 Jahren sind die damaligen DDR-Bürger in einen Zug nach Deutschland eingestiegen, aber viele sind da nie angekommen“, beschreibt Sergej Lochthofen die Entwicklung mit einem Bild. Der Erfurter Publizist und erfolgreiche Buchautor gilt als eine der wichtigsten Stimmen der neuen Bundesländer, seine Zeitdiagnosen sind gefragt. Die veränderte Wirklichkeit habe diejenigen Teile der Bevölkerung überfordert, für die Sicherheit und Überschaubarkeit vor Freiheit rangierten, die in Demokratie und offener Gesellschaft eher eine Bedrohung sähen. Ihre Prägung durch den DDR-Staat habe sie zudem anfällig für autoritäre Muster gemacht, für rechtspopulistisches und rechtsextremes Gedankengut.

Möglicherweise erleben wir im Westen gerade – zeitverzögert – auch eine große Verunsicherung. Die Welt, wie wir sie vielleicht in der Kindheit wahrgenommen haben, löst sich auf. Das Straßenbild ist bunter, was nicht alle Menschen als Bereicherung empfinden, Mitgliedschaften in Kirchengemeinden, Sportvereinen, Gewerkschaften und Chören gelten als uncool, Erfahrungen haben für die Arbeits- und Lebenswelt von heute nur noch eine randständige Bedeutung. Da kommt ein politisches Angebot wie das der AfD gerade recht, verspricht es doch, eine unrealistisch verklärte Vergangenheit wieder herzustellen: Ohne Globalisierung und Migration, hierarchisch geordnet, sozial gesichert. Schon ein flüchtiger Blick in Archive zeigt, dass es eine solche Vergangenheit nie gab – außer in Bullerbü.

Spricht man mit Sergej Lochthofen über dieses Thema, sieht er bei den demokratischen Parteien auch Fehler und Versäumnisse. Beim großen Angst-Thema Zuwanderung erkennt er deutliche Versäumnisse („zu viel Reagieren, zu wenig gestaltendes Handeln“), auch seien notwendige Entscheidungen immer wieder geschoben worden – etwa beim Klimaschutz – mit dem Ergebnis, dass Probleme sich irgendwann stapeln. Dass dann viele Wählerinnen und Wähler von solchen Parteien keine Lösungen mehr erwarten, versteht sich von selbst.

Aber: „Wir haben insgesamt als Gesellschaft eine Stimmung zugelassen, als wäre Deutschland in einem Zustand wie Afghanistan. Das ist natürlich kompletter Blödsinn.“ Das treibe dann nicht der Opposition in Berlin Stimmen zu, sondern sei Wasser auf die Mühlen der Ewiggestrigen, der Systemgegner, der Demokratiefeinde, der Frustrierten, ist Lochthofen überzeugt. Diese These scheint richtig zu sein: Bislang verfängt der Versuch von Teilen der CDU/CSU nicht, mit den Themen Gendern und Wokeness zu punkten. Die Umfragewerte der Union stagnieren, die Sympathien für Oppositionsführer Friedrich Merz liegen unter denen ungeliebter Ampel-Politiker, obwohl – oder weil? – er der konservative Frontmann im Kulturkampf ist. Sein Versprechen, als Vorsitzender der CDU die Zustimmungswerte der AfD zu halbieren, ist er schuldig geblieben. Im Gegenteil, sie sind heute bundesweit doppelt so hoch. Vielleicht ist die deutlichere Abgrenzung zu den AfD-Positionen zielführender, wie sie der smarte Hendrik Wüst in Düsseldorf pflegt, der dem hyperventilierenden Kulturkampf wenig abgewinnen kann, wie er vor Kurzem im Kölner Presseclub bekannte.

Die Immunisierung der Gesellschaft gegen rechtspopulistisches, teilweise rechtsextremes Gedankengut, so lernen wir, scheint schwieriger zu sein als die Entwicklung eines wirksamen Impfschutzes gegen das lebensgefährliche Corona-Virus.

Das Stichwort „braune Brühe“ wäre jetzt die wenig elegante Überleitung zum wöchentlichen Podcast unserer Kollegin Susanne Hengesbach. Aber das wäre natürlich etwas billig, also verzichte ich darauf, auch wenn es bei ihr unter anderem um Kaffee in seinen vielfältigen Erscheinungsformen geht. Allerdings: Eine Espresso-Maschine in der Preisklasse eines Kleinwagens ist noch lange kein Garant für echte Kaffeequalität. Und überhaupt, Fine Dining und Sterne-Küche sind das eine. Aber wie sieht es sonst aus mit dem, was in deutschen Restaurants und Cafés auf dem Tisch oder in der Tasse landet. Doch hören Sie selbst  .

 

In diesem Sinne grüße ich Sie, herzlich wie stets,

Ihr

Michael Hirz